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Schwerbehindert Nicoles Glücksrezept

Zum Tag der Menschen mit Behinderung erklärt eine Sachsen-Anhalterin, warum sie trotz angeborener schwerer Krankheit glücklich ist.

Von Elisa Sowieja 03.12.2015, 00:01

Magdeburg/Zahna l Wer Nicole Stoib zum ersten Mal trifft, mag bei der Begrüßung verunsichert sein. Die zierliche Frau im Rollstuhl kann ihre Arme und Hände kaum bewegen. Was also macht man am besten? Wie sagt man herzlich „Hallo“, ohne sich aufzudrängen? Schüttelt man ihr einfach die Hand? Winkt? Oder behält seine Hände bei sich? Stoib scheint eine Antenne für Unsicherheit zu haben. Es dauert keine drei Sekunden, da huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: „Ich kann Ihnen leider nicht die Hand geben!“

Die junge Frau aus Zahna im Landkreis Wittenberg hat solche Situationen wohl schon Hunderte Male erlebt. Sie leidet unter spinaler Muskelatrophie, einer angeborenen Behinderung, bei der sich die Nervenenden nach und nach zurückbilden, so dass es zu Muskelschwund kommt. Laufen hat sie nie gelernt. Bis ins Jugendalter konnte sie noch die Arme gut bewegen. Ab der zehnten Klasse dann hatte sie einen Integrationshelfer, der im Unterricht mitschrieb. Heute ist Stoib 31 Jahre alt und benötigt für fast alles die Hilfe ihrer Eltern – vom Anziehen bis zum Zähneputzen. Trotzdem, sagt sie, ist sie glücklich.

Dass sie das ohne einen Anschein von Zweifel bekunden kann, liegt in erster Linie an ihrer Einstellung: „Ich habe meine Behinderung akzeptiert“, erklärt die junge Frau. Nun klingt das aber ganz schön einfach. „Wahrscheinlich ist es hilfreich, dass ich nicht weiß, wie ein Leben ohne Rollstuhl ist“, entgegnet sie. „Außerdem möchte ich mich nicht damit beschäftigen, ob ich schon überfällig bin. Ich genieße einfach jeden Tag.“

Das Glücklichsein funktioniert auch deshalb, weil Stoib, so wie ein gesunder Mensch, studieren konnte. An einer privaten Hochschule in Heidelberg hat sie ihren Bachelor in Sozialer Arbeit gemacht. Möglich war das, weil es auf dem Campus einen 24-Stunden-Pflegedienst gibt. Die Kosten übernahmen Pflegekasse und Sozialamt.

Nach dem Studium hat sie beim Magdeburger Verein „Selbstbestimmt Leben“ einen Job gefunden, der wie maßgeschneidert ist. Stoib betreut ein Projekt, das Behinderten in Sachsen-Anhalt Hilfestellung gibt: das Kompetenzzentrum für Barrierefreiheit. Sie bestückt eine Internetseite, auf der sich etwa Empfehlungen für barrierefreies Bauen, Infos zu neuen Hilfs-Robotern und Tipps zum Studieren finden.

Die Sachsen-Anhalterin arbeitet von zu Hause aus, sechs Stunden am Tag. Dass das überhaupt funktioniert, verdankt sie einerseits der Technik und andererseits ihrem Vater. Ihr Computer ist so ausgestattet, dass sie mit Fingerbewegungen über ein Touchpad Buchstaben auf dem Bildschirm anwählen kann. So schreibt sie und surft im Internet. Ihr Vater arbeitet als ihr Assistent, bezahlt vom Integrationsamt. Auch nach Feierabend kümmert er sich; seine Frau und er übernehmen die Pflege rund um die Uhr. „Wir verstehen uns auch ohne Worte“, sagt sie. Noch so eine Sache, die das Glücklichsein einfacher macht. An einen Job zu kommen, war für Stoib allerdings alles andere als leicht. Mehr als 70 Bewerbungen hat sie verschickt. Zehnmal kam sie bis zum Gespräch, doch dann war immer Schluss.

„Manchmal habe mich gefragt, warum ich das alles mache“, erinnert sie sich. Teils habe man ihr offen gesagt, dass die Behinderung ein Problem sei – zum Beispiel, weil der Job viele Außentermine mit sich bringe. Manchmal habe das Büro im oberen Stock eines Hauses ohne Aufzug gelegen. „Oft hatte ich auch das Gefühl, die Chefs hatten eine Schranke im Kopf.“

Schwerbehinderte im Beruf sind besonders in Sachsen-Anhalt eine Seltenheit. Zuletzt waren nur 3,8 Prozent der Arbeitsplätze entsprechend besetzt, weniger als in allen anderen Ländern. Der Bundesschnitt lag bei 4,7 Prozent. Die Arbeitsagentur erklärt das mit der Firmenstruktur: Hierzulande gibt es vor allem kleine und mittlere Betriebe, die beschäftigen Menschen mit Handicap seltener als große. Das hat damit zu tun, dass Chefs erst ab 20 Mitarbeitern verpflichtet sind, Schwerbehinderte einzustellen oder einen Ausgleich zu zahlen.

Sachsen-Anhalts Sozialministerium appelliert an die Arbeitgeber. Wichtig sei ein Umdenken in der Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, sagt ein Sprecher. Als Motivation haben Firmen die Möglichkeit, Arbeitsplätze für Behinderte fördern zu lassen.

Auch Jürgen Hildebrandt kennt das Problem mit den Jobs. Er ist Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes Sachsen-Anhalt. „Viele scheuen sich, Schwerbehinderte einzustellen, weil sie glauben, sie werden sie nicht mehr los“, sagt er. Dabei sei für eine Kündigung nur die Zustimmung des Integrationsamtes nötig. Udo Rheinländer vom Verein „Selbstbestimmt Leben“ sieht noch ein weiteres Hemmnis: „Chefs trauen diesen Menschen oft nicht zu, dass sie gute Arbeit leisten. Dabei sind sie sogar besonders engagiert und zuverlässig, denn sie sehen in einer Arbeitsstelle die Chance ihres Lebens.“

Ob sich Nicole Stoib in ihrem Job auch künftig beweisen kann, ist noch offen. Denn das Projekt, für das sie arbeitet, wird vom Land gefördert, und die Förderung läuft Ende Dezember aus. In den nächsten Wochen entscheidet sich, ob es 2016 weitergeht. Bis dahin genießt die junge Frau ihr Leben einfach anders. In ein paar Tagen geht‘s zum Weihnachtsmarkt nach Dresden. Mit ihren Eltern, selbstverständlich. Ob sie sich mit denen nicht oft in der Wolle hat, wenn man sich doch selbst im Urlaub rund um die Uhr sieht? Stoib überlegt kurz, dann formuliert sie entspannt ihre Antwort: „Nein, eigentlich fast nie. Ich finde, das Leben ist zu kurz, um sich zu streiten.“

Das Projekt zur Barrierefreiheit findet man im Internet unter www.kb-sa.de.