Vor 60 Jahren starb der sowjetische Diktator / Der Personenkult um ihn trieb auch hierzulande seltsame Blüten. Von Oliver Schlicht Stalins Tod: Der Generalissimus in Sachsen-Anhalt
Am 5. März 1953 starb Josef Stalin. Der Tod des Diktators versetzte das öffentliche Leben in Sachsen-Anhalt damals in eine mehrtägige Schockstarre. Ein Blick zurück.
Magdeburg l "Ich habe bitterlich geweint", erinnert sich der 65-jährige Wolfgang Bernicke, heute Bürgermeister in Genthin. Als Fünfjähriger überquerte er an der Hand seiner 14-jährigen Schwester Ingrid in Potsdam gerade eine Bahnbrücke. "Wir wollten zur Oma. Da schallte aus den Lautsprechern, die damals überall hingen, plötzlich Trauermusik und die Nachricht, dass Stalin gestorben ist." Geweint habe er, weil die große Schwester stehenblieb und ebenfalls zu weinen begonnen hatte. "Sie sagte, jetzt gibt es wieder Krieg. Und was Krieg bedeutet, hat sie als kleines Kind erlebt", erzählt der Bürgermeister.
Als Nordkoreas Machthaber Kim Jong-Il im Dezember 2011 stirbt und Bilder von schluchzenden Massen im Fernsehen zu sehen sind, kann sich wohl kaum ein TV-Zuschauer vorstellen, dass sich nur eine Generation zurück in Magdeburg oder Haldensleben ganz ähnliche Szenen abgespielt haben. Aber die Bilder gleichen sich.
"Es gab zwei Arten, mit Stalin umzugehen", sagt der ehemalige Hochschullehrer Heinz Sonntag (76): "Den einen war Stalin egal. Die anderen verehrten ihn zutiefst als Gewinner des Krieges und Besieger Hitlers. Für Letztere - vor allem Kommunisten und Sozialisten - brach mit seinem Tod eine Welt zusammen." Sonntag erinnert sich, dass vor den Eingängen der großen Magdeburger Betriebe Tag und Nacht FDJler standen und Ehrenwachen bildeten. "Als Bewaffnung trugen sie Luftgewehre."
Die Volksstimme - damals Bezirksorgan der SED - berichtete schon am Tag vor Stalins Tod auf der Titelseite über den Gesundheitszustand des Sowjetführers. Temperatur: 38,6 Grad Celsius. Die Urinprobe zeigt Spuren von Eiweiß und roten Blutkörperchen. "Wiederholt wurden Blutentnahmen mit Hilfe von Blutegeln vorgenommen", zitiert das Blatt aus dem Bulletin der behandelnden Ärzte.
In der Volksstimme wird der Tod am Sonnabend, dem 7. März, offiziell vermeldet. Ein schwarz umrandetes Bild zeigt Stalin auf der Titelseite. Der Text ist die wörtliche Wiedergabe der Mitteilung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Beileidsbekundungen und die Vorbereitungen der Begräbnisfeierlichkeiten nehmen in den nächsten Tagen breiten Raum in der Zeitung ein.
Trotz des großen Ereignisses: In einem kleinen Teil der täglichen Volksstimme-Seiten spielt Stalin publizistisch keine Rolle. Dort durfte das normale Leben weitergehen. Es gab Sport- ergebnisse und Verkehrshinweise. Gewerbliche Anzeigen ("Herren-Bundsocken, das Paar 2,25 Mark im Konsum") flogen ebenso wenig aus dem Blatt wie die neueste Ausgabe des Fortsetzungsromans: "Menetekel oder die fliegenden Untertassen von Friedrich Wolf".
Ausführlich berichtet das SED-Organ über angeblich freiwillige Ehrbekundungen von Werktätigen für Stalin. So pflügen Traktoristen aus Wolmirstedt-Elbeu in Barleben in einer Sonderschicht 15 Hektar Saatfurche. Die LPG "Bundschuh" in Biere bei Schönebeck verpflichtet sich, das Schweinefleisch-Plansoll bis zum 31. Juli vorfristig zu erfüllen. Die Mitarbeiter der Stadtsparkasse Magdeburg wollen zu Stalins Ehren 1200 Stunden Aufbauarbeit leisten.
Massendemonstrationen in vielen großen Städten
Für den 9. März werden in vielen größeren Städten Sachsen-Anhalts Massendemonstrationen organisiert. In der Volksstimme erscheinen Aufmarschpläne, die festlegen, wo genau sich alle Betriebsangehörigen zu versammeln haben. Mitgeführt werden dürfen rote Fahnen und DDR-Fahnen mit Trauerflor. Als Bilder sind ausschließlich zugelassen: Stalin-Porträts und Bilder von Marx, Engels, Lenin und Stalin im Verbundbild. "Der An- und Abmarsch erfolgt schweigend", wird in der Zeitung vorgeschrieben. 100000 Menschen marschieren am 9. März in Magdeburg vor der SED-Ehrentribüne an einem knapp zehn Meter hohen Stalin-Bild vorbei. In Stendal sind es 15000, in Halberstadt 10000.
Das Bildnis Stalins - es gehörte zum Beginn der 1950er Jahre zum alltäglich Leben der Menschen auch in Sachsen-Anhalt. Es prangte an öffentlichen Gebäuden, in der Betriebskantine und in der Schule sowieso. Lilo Arnhold (89) aus Magdeburg war 30 Jahre lang Oberreferentin für Vorschulerziehung im Rat des Bezirkes. Ehemann Horst leitete die Schulinspektion im Bezirk. "Es gab genaue Vorschriften darüber, dass in jedem Klassenzimmer ein Stalin-Ehrenschrein eingerichtet werden muss." Bild, Fahne, Losung. "Im Kindergarten noch nicht. Aber in der Schule schon." Zuständig für die "Stalin-Ecken" waren die Pionierleiter der Schulen. "Möglichst auch mit frischen Blumen. Da gab es in jeder Klasse einen Verantwortlichen", erinnert sich Edda Raschke (73) an ihre Kindertage.
Raschke arbeitet in der Magdeburger Seniorenvertretung an einem Zeitzeugen-Programm. Beim Thema Stalin noch Zeitzeugen zu finden, sei nicht einfach - nicht nur aus Altersgründen. "Viele Menschen wollen nicht, dass ihr Name in Verbindung mit Stalin in der Zeitung steht", erzählt sie. Eine ältere Dame berichtet, dass Abordnungen von Betrieben im Dezember 1950 vor dem Magdeburger Hauptbahnhof an einem Höhenfeuerwerk zu Ehren von Stalins Geburtstag teilnehmen mussten. Die Raketen explodieren zu hören, sei schrecklich gewesen, erzählt sie - nur fünf Jahre zuvor war die Stadt im Bombenhagel untergegangen.
"Die meisten Menschen haben die Darstellungen Stalins als dauernde Demütigung empfunden", glaubt der Historiker Sascha Möbius, derzeit Leiter der Stiftung Gedenkstätten von Sachsen-Anhalt. Die "Liebe zum Generalissimus" habe sich so wie in der Sowjetunion hier nie entfalten können.
Personenkult angelehnt an Kirchen-Traditionen
"Der Personenkult hat sich in der Sowjetunion stark an die Liturgie der orthodoxen Kirche angelehnt. Dies konnte seine Wirkung entfalten, weil es dort damals viele Analphabeten gab. In Deutschland war das anders", so der Historiker. Hier wurde Stalin mehr als Bedrohung wahrgenommen. Möbius: "Wir wissen aus vielen Unterlagen, dass zu Beginn der 1950er Jahre kleinste Vergehen wie das Erzählen von Witzen über Stalin oder Ulbricht mit langjährigen Haftstrafen belegt wurden."
Mit Stalin war nicht zu spaßen. Diese Erfahrung musste auch die 14-jährige Erika Riemann aus Mühlhausen in Thüringen machen. Das Mädchen hatte 1945 Stalins Bart auf einem Porträt mit einem Lippenstift bemalt. Neun Jahre verbrachte sie im kommunistischen Konzen-trationslager Sachsenhausen.