Hallenser Theologin Birgit Neumann-Becker erhält neun Monate nach ihrer Wahl die Ernennungsurkunde Stasi-Beauftragte: "Ich bin die Neue"
Magdeburg. Nach fast dreijähriger Unterbrechung hat Sachsen-Anhalt wieder eine Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Die Hallenser Theologin Birgit Neumann-Becker erhielt gestern von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) ihre Ernennungsurkunde. Ihr Amt tritt sie heute offiziell an.
Es war am Donnerstag im Palais am Fürstenwall in Magdeburg, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten, nur ein kleiner formaler Akt, als im Beisein von Justizministerin Angela Kolb (SPD) die Hallenser Theologin Birgit Neumann-Becker von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) ihre Ernennungsurkunde erhielt - knapp neun Monate nach ihrer Wahl durch den Landtag am 12. Juli 2012.
Mit der offiziellen Ernennung hat Sachsen-Anhalt nach drei Jahren wieder das Amt des Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes besetzt: Die lange Vakanz war den Klagen mehrerer unterlegener Mitbewerber geschuldet (siehe unten).
Birgit Neumann-Becker machte gestern auch klar, worum es ihr geht: Um Aufarbeitung, um das Aufdecken von Mechanismen einer Diktatur. "Es geht darum, ein Geschichtsbild zu transportieren. Das können wir nur, wenn wir die Diktatur verstanden haben, in allen Facetten."
1963 in Görlitz geboren, hatte sie zuletzt seit 2009 als Kreisschulpfarrerin in Merseburg gearbeitet. Ihre Bewerbung um das Amt der Landesbeauftragten begründet sie mit ihrer Biografie. "Als 17-Jährige kriegte ich die ganze Wucht des Staates zu spüren", erzählt sie. Als Jugendliche in den 1980er Jahren, als die atomare Aufrüstung in Ost und West auf ihren Höhepunkt zusteuerte, trug sie den Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen". Eine Initiative, mit der die Kirche auf die Hochrüstung auch im Osten aufmerksam machen wollte. Die Schülerin musste zum "Gespräch" zum Schuldirektor und zum Verhör bei der Polizei. "Da hatten wir gemerkt, dass wir einen ganz neuralgischen Punkt getroffen hatten." In dieser Zeit war in Polen der Kriegszustand ausgerufen, sie erlebte damals in Görlitz, dass Panzer über die Grenze fuhren, und für sie stand fest: "Das mache ich nicht mit."
"Eigentlich wollte ich Lehrerin werden. Aber nicht unter diesen Zwängen."
Diese Erlebnisse in der Schule, aber auch Gespräche mit einer Lehrerin, die Verständnis für ihren Widerspruchsgeist hatte, haben sie wohl so beeinflusst, dass sie nach ihrem Abitur Theologie studiert. "Eigentlich wollte ich Lehrerin werden. Aber nicht unter diesen Zwängen." Sie studiert von 1982 bis 1988 in Halle Theologie, engagiert sich in der Evangelischen Studentengemeinde und in der Gruppe "Frauen für den Frieden", die sich gegen die zunehmende Militarisierung vor dem Hintergrund des zugespitzten Ost-West-Konfliktes wenden. Für die Staatssicherheit wird die damals 21-jährige Studentin zum Beobachtungsobjekt. Zwei operative Vorgänge werden angelegt, wie sie später, Anfang der 1990er Jahre, aus ihrer Akte erfährt. "Es war gut zu erkennen, wie es gedacht war. Das hat mich umgehauen", erzählt sie heute. Im Hintergrund gab es einen Stab von Leuten bei der Stasi, die sich überlegt haben, wie sie eine Person "zersetzen" können. Das System, wie es funktioniert hat, welchen Auftrag es hatte, steht für Birgit Neumann-Becker mehr im Vordergrund als der Fakt, wer der Informelle Mitarbeiter (IM) in der Studentengemeinde und der Frauengruppe war. Dennoch hat auch sie Überraschungen beim Blick in ihre Akte erlebt. "Ein inzwischen verstorbener Professor, den ich immer noch sehr schätze, war dabei. Wir haben ein Gespräch geführt, das ist für mich eine geklärte Geschichte. Das war gut, weil für mich klar wurde, warum er es gemacht hatte."
Vor dem Hintergrund ihrer Biografie will die neue Landesbeauftragte nicht nur die Mechanismen der Diktatur aufarbeiten, sondern auch auf junge Menschen zugehen. "Wie kriegen wir es hin, Menschen zu ermutigen, den eigenen Kopf zu benutzen? Diese Frage stellt sich doch heute auch noch", sagt sie. "Wie werden Menschen gestärkt, wie entwickelt sich Gewissen? Ich möchte mich im Spiegel angucken können. Das ist ein wichtiges Feld für Jugendliche, dieses auch zu lernen."
Und sie stellt vorsichtig Fragen zur Aufarbeitung von Unrecht in der DDR: "Hilft uns wirklich dieses Täter-Opfer-Denken, diese Polarisierung?" Man sollte schauen, was Menschen dazu bringt, nicht dem Mainstream zu folgen, wo die eigene Verantwortung, die eigenen Handlungsmöglichkeiten liegen. Wo sind Gespräche möglich, wenn die Betroffenen noch leben? Zugleich stellt sie eine große Diskrepanz fest, wenn einerseits den Opfern viel Empathie entgegengebracht wird, ihre Schicksale beschrieben werden, sie aber defacto durch Hafterfahrung so stark in ihren Berufsbiografien beschädigt sind, dass sie auf eine Altersarmut zugehen. Und auf der anderen Seite sind die sogenannten Täter, die mit der Vergangenheit abgeschlossen haben und sie auch strafrechtlich nicht mehr belangt werden können. "Sie tauchen heute als Leute auf, die die Aufarbeitung behindern oder einfach wegtauchen. Es gibt eben Menschen, die die gleiche Zeit so verschieden erlebt haben und auch so verschiedene Konsequenzen zu tragen haben. Das ist eine Realität, die man nicht juristisch aufarbeiten kann, vielleicht eher beschreibend."
"Versöhnung kann nur zwischen zwei Menschen passieren, sie kann nicht verordnet werden."
Ein Dilemma, das die Opferverbände bewegt. Ob am Ende dieser Aufarbeitung auch Versöhnung stehen kann, da steht ein großes Fragezeichen. Für Birgit Neumann-Becker ist dies nicht die vordringlichste Frage, denn Versöhnung könne nur zwischen zwei Menschen passieren. "Versöhnung kann nicht verordnet werden. Aber wenn sie nach Aufarbeitung kommt, wäre sie ein schöne Folge."
In ihrem neuen Amt will die Theologin zuallererst viele Gespräche führen, um Vertrauen zu gewinnen. Ganz unverkrampft, auch wenn es ein jahrelanges Hick-Hack um die Besetzung des Amtes gegeben hatte. "Ich bin die Neue", sagt sie bewusst vor diesem Hintergrund. Ausdrücklich betont sie, dass sie sich als Ansprechpartnerin für alle Menschen versteht, sowohl der Opfer, als auch der Menschen, die in dem System verstrickt waren und darüber sprechen wollen. Voranbringen will sie auch die wissenschaftliche Aufarbeitung. Dabei will sie auch die Aufarbeitung der letzten 20 Jahre selbst in den Fokus rücken. Dabei soll es um die Fragen gehen, die gestellt wurden und welche nicht. "Es gibt blinde Flecken, die wir näher beleuchten sollten."