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Stenograf 400 Silben pro Minute im Landtag

Nichts darf Ringo Ulrich im Landtag von Sachsen-Anhalt entgehen. Über eine fast vergessene Kulturtechnik und skurrile Momente.

Von Massimo Rogacki 17.10.2020, 01:01

Magdeburg l Der Plenarsaal des Landtags in Magdeburg: Ringo Ulrichs Finger fliegen über die Tasten seiner Stenografiermaschine. Dem 41-Jährigen entgeht keine Wortäußerung, kein höhnisches Lachen, keine aufgeregte Handbewegung. Er protokolliert von seinem Tisch am Rande des Rednerpults Buhrufe und Applaus. Er registriert Zwischenrufe von Abgeordneten und ordnet sie im weiten Rund des Plenarsaals dem richtigen Politiker zu.

Seit mehr als 20 Jahren ist der gebürtige Staßfurter Stenograf im Landtag – und als solcher dafür zuständig, dass Reden und Wortbeiträge in Plenarsitzungen und Ausschüssen lückenlos festgehalten werden – Beifall und Widerspruch inklusive.

Etwa 130 Berufskolleginnen und -kollegen sind in den deutschen Länderparlamenten beschäftigt, hinzu kommen rund 30 freiberuflich Tätige. Der Bundestag mit seinen 709 Abgeordneten leistet sich mehr als 30 der Schnellschreiber.

Ringo Ulrich arbeitet bei Plenarsitzungen in Magdeburg mit 13 Kollegen an den Protokollen. „Es ist ein fordernder Beruf. Aber vor allem macht er noch immer Spaß“, sagt er. Stenografen – sie müssen das gesprochene, das mitunter gemurmelte oder gar herausgebrüllte Wort mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 400 Silben pro Minute festhalten, mehr als fünfmal so schnell wie mit normaler Handschrift.

Klassisches Steno hat Ulrich nie gelernt. Das Zehn-Finger-System auf der Schreibmaschinentastatur: „Kann ich auch nicht“, sagt er. Muss er auch nicht, er beherrscht sein Werkzeug perfekt. Im Gegensatz zu Berufskollegen, die mit Bleistift oder Kugelschreiber stenografieren, vertraut Ulrich der Stenografiermaschine. Das Prinzip ist ähnlich: nicht ganze Wörter werden notiert. Das dauert zu lange. Der Stenograf notiert Silben. Erzeugt werden sie durch unterschiedliche Tastenkombinationen. „Ein wenig ist das wie beim Spielen eines Akkordeons“, sagt der Landtagsmitarbeiter.

Der überwiegende Teil der Berufsstenografen arbeitet nach wie vor mit Stift und Papier. In digitalen Zeiten, in denen jeder ein Diktiergerät auf dem Handy hat, wird die lange bewährte Kulturtechnik aber mehr und mehr zu einer „Geheimschrift“. Immer weniger Menschen lernen oder gebrauchen die Technik, die früher in Büros dazugehörte und die auf die alten Römer zurückgeht.

Heute gibt es deutschlandweit noch immer Vereine, deren Mitglieder das Stenografieren betreiben – und die Parlamente in Deutschland als letzte professionelle Bastionen. Die Stenomaschine: Ulrich kam mit ihr zum ersten Mal Ende der 1990er-Jahre in seiner Ausbildung zum Verwaltungsmitarbeiter im Landtag in Berührung. Das System kommt ursprünglich aus den USA. Anfangs spuckten die Geräte Stenogramme als Papierstreifen aus, heute funktioniert das längst digital. Vorteil: Nach der Erfassung muss Ulrich sein Stenogramm nicht aufwendig transkribieren. Der Computer erledigt das.

Voraussetzung, um als Stenograf auf dem Level arbeiten zu können, ist meist ein Studium. Das hat Ulrich begleitend zu seiner Ausbildung im Landtag absolviert. Politikwissenschaft und Soziologie hat er studiert. Unter den Landtagsstenografen gibt es aber auch Exoten, etwa eine Maschinenbauerin. Eine freiberufliche Kollegin, die das Team im Landtag regelmäßig unterstützt, ist schon über 80.

Wichtig ist, sagt Ulrich, dass er die Sitzungen inhaltlich vorbereite. In immer neue Themen und Inhalte liest er sich ein. Aktuell geht es – kein Wunder – häufig um Themen rund um Corona.

Corona - das Wort kennt mittlerweile auch der lernfähige Steno-Computer. Vorbereitung, das heißt auch: Am Anfang einer jeden Legislatur prägt sich Ulrich die Gesichter und Stimmen der Abgeordneten – derzeit sind es 87 – ein. Vorbereitung ist eminent wichtig: Ansonsten verliert man beim Stenografieren Zeit, sagt der 41-Jährige.

Bei Plenarsitzungen sitzen die Stenografen im Zentrum des Saals, und dabei nicht selten inmitten eines Orkans, wenn sich die Stimmen überschlagen, Zwischenrufe aus allen Richtungen kommen. „Manchmal ist das ein einziges Tohuwabohu“, sagt Ulrich.

Obwohl sie keinen exponierteren Platz im Plenarsaal haben könnten, wahrgenommen werden die Stenografen nur von wenigen Abgeordneten oder Besuchern des Landtags. „Und das ist auch richtig so“, sagt Ulrich. Stenografen seien das „Gedächtnis des Parlaments“, unscheinbar und unauffällig, aber akribisch – etwa so könnte die Berufsbezeichnung lauten.

Eine komplette Sitzung muss ein einzelner Stenograf nur bei Ausschüssen bewältigen. Dort wird analytisch – also nicht wortgenau – protokolliert. Im Plenarsaal dauert ein Einsatz genau 14 Minuten und 59 Sekunden, dann übernimmt die Kollegin oder der Kollege. Nach einer Stunde ist Ulrich wieder dran.

Die eigentliche Arbeit fängt erst außerhalb des Plenarsaals an. Das gesprochene Wort muss transkribiert – also übertragen – werden. Für den Notfall gibt es von der Sitzung eine Tonbandaufzeichnung. Eine Stunde Steno erfordere rund acht Stunden Nachbereitung, so die Faustformal. „Das kann im Nachgang der Sitzungen schon ein etwas einsamer Job sein“, sagt Ulrich und lächelt.

Der 41-Jährige zieht sich für die Nachbereitung in sein kleines Büro im Landtagsgebäude zurück. Dort überträgt er die Rede von der Stenomaschine in den Computer. Versprecher werden korrigiert, Wortauslassungen ergänzt, die Sätze durch Punkt und Komma strukturiert. „Wir glätten die Reden“, nennt es Ulrich, „ohne in den Inhalt einzugreifen“. Am Ende steht das stenografische Protokoll, das die Abgeordneten im besten Fall ohne Rücksprache abnehmen und welches am Folgetag veröffentlicht wird.

Das Protokoll dient nicht nur als Arbeitsmittel für Parlament, Regierung und Verwaltung. Es trägt zur politischen Willensbildung der Menschen bei. Dem politischen Geschehen Transparenz verleihen, nachvollziehen, wie Gesetze gemacht werden, einen Einblick zu erhalten, wie sich die Abgeordneten der jeweiligen Fraktionen zu Themen positionieren – wichtig.

In über 20 Jahren als Landtagsstenograf hat Ringo Ulrich Hunderte Redner erlebt. Nicht immer war jedes Wort es wert, für die Nachwelt festgehalten zu werden, sagt er mit einem Augenzwinkern. Und er kennt sie alle: Einige Abgeordnete sprechen druckreif, andere kommen vom Hundertsten ins Tausendste. Bei einem nicht seltenen Typus von Redner wird das bereitgelegte Manuskript ganz schnell zur Nebensache. Dann gibt es kein Halten mehr. Staccato-Sätze, solche, die kein Ende haben, alles schon gehabt, bemerkt Ulrich.

Prominentes Beispiel: Die Beiträge des früheren Finanzministers Jens Bullerjahn (SPD) - die seien etwas ausufernd gewesen, sagt der Stenograf und schmunzelt. Für den Zuhörer klang das schon engagiert, gibt er zu. „Für uns Stenografen war es schwierig.“ Da musste man den Mut haben, auch etwas stärker ordnend einzugreifen, sagt er.

Jeder Redner ist anders. Auch neue Fraktionen kommen immer mal wieder hinzu. Der erfahrene Landtagsmitarbeiter hat hautnah erlebt, wie sich die Debattenkultur und die Dynamik im Saal ändern können. Mit dem Einzug der AfD in das Landesparlament sei es lauter, intensiver und damit „anstrengender“ für Stenografen geworden, sagt Ulrich. Er hat schon die DVU im Landtag erlebt. „Rotlackierte Faschisten“, wurde da mal den PDS-Abgeordneten entgegengeschmettert. Beileibe nicht ganz einfach. Mit dem Einzug der AfD allerdings hätten Zurufe zugenommen, die Lautstärke, in der sich die Politiker begegnen, persönliche Anfeindungen. Gerade zu Hochzeiten der Flüchtlingswelle seien die Emotionen regelmäßig hochgekocht, erinnert sich Ulrich.

Skurrile Momente, die beim Stenografen hängen geblieben sind? Auch die gibt es zuhauf. Ein Beispiel von der AfD kommt Ulrich in den Kopf. Der Abgeordnete Mario Lehmann schlug vor, den Kinderkanal (Kika) in „Ficki-Ficki-Anleitungs-TV“ umzubenennen. Es ging um ein Aufklärungsformat. „Ihre Ausdrucksweise ist eines Parlamentes unwürdig“, schimpfte der SPD-Abgeordnete Andreas Steppuhn. Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch (CDU) unterbrach die Debatte und berief eine Sitzung des Ältestenrates ein.

Nicht immer ist Ulrichs Erinnerungsvermögen so gut, etwa, wenn er abends von der Arbeit berichten soll. „Wenn meine Frau fragt, was am Tag passiert ist, muss ich häufig passen“. Weil sich die Kollegen abwechseln, kommen bei den Stenografen nicht selten lediglich Fetzen der Sitzungen an. Manchmal erfahre er sogar erst später, was der Landtag eigentlich beschlossen hat.

Wenn Ringo Ulrich mal nicht um sein Leben stenografiert, verbringt er seine Abende mit der Familie. Obwohl er eher der Typ mit den grazilen Klavierspielerfingern ist, bevorzugt er in der Freizeit ein anderes Instrument. Gitarre spielen, das ist ein Hobby, sagt er. So ganz hat ihn sein Beruf aber auch in der Freizeit lange nicht losgelassen.

Bis vor einigen Jahren hat der Stenograf an nationalen Vergleichen und Steno-Weltmeisterschaften teilgenommen. Einige Kollegen aus Deutschland stenografieren dabei sogar in verschiedenen Sprachen um die Wette. Wer die meisten Silben pro Minute schafft, gewinnt. Das sind dann nicht selten 475 Silben pro Minute. „Ein einziger Sprachbrei“, sagt Ulrich.

Mittlerweile hat er für sich herausgefunden: Wer professionell in dem Beruf arbeitet, braucht auch mal Abstand. Und der ist wichtig. Wenn es in den Sitzungen darauf ankommt, darf schließlich kein Wort verloren gehen.