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U-Haft Warum bleiben Wiederholungstäter frei?

Sachsen-Anhalts Landeschef des Bundes der Richter und Staatsanwälte, Christian Hoppe, zu den Hürden für Haftbefehle.

Von Matthias Fricke 15.05.2019, 01:01

Volksstimme: Obwohl die Angreifer einschlägig bekannt waren, sah die Justiz keine Wiederholungsgefahr. Warum?
Christian Hoppe: Zum konkreten Fall kann ich nichts sagen. Die Hürden für eine Untersuchungshaft aufgrund von Wiederholungsgefahr liegen aber sehr hoch. Und mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht haben wir auch drei völlig unterschiedlich arbeitende Einheiten. Eine sinnvolle Trennung. Das heißt, die Polizei führt Ermittlungen, die Staatsanwaltschaft ist Herrin des Ermittlungsverfahrens und das Gericht ist eine von den Ermittlungsbehörden unabhängige Instanz. Diese bewertet den Sachverhalt nach dem vorliegenden Akten- und Faktenwissen. Ein entsprechender Informationsfluss ist dabei natürlich grundlegende Voraussetzung. Die Polizei sichert also alle Beweise, vernimmt Zeugen und schätzt den Fall vorläufig ein. Dies kann bedeuten, dass die Polizisten dann zu dem Ergebnis kommen, dass im Sinne der Strafprozessordnung die Voraussetzungen für einen Haftbefehl vorliegen könnten. In dem Fall wenden sich die Beamten an die Staatsanwaltschaft, die wiederum prüft, ob die Fakten für einen Antrag beim Haftrichter ausreichen.

Ab wann beginnt für Sie eine Wiederholungsgefahr?
Man muss dazu Folgendes wissen: Wiederholungsgefahr ist eigentlich kein klassischer Haftgrund. Das ist eher vorbeugende Verwahrung und unterliegt deshalb sehr strengen Anforderungen. Es muss nicht nur eine direkte Wiederholung vorliegen, sondern auch eine sogenannte Anlass­tat geben. Darunter verstehen wir Juristen bestimmte Tatbestände, die eine Haft wegen Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnten. Das betrifft eben nur wenige schwere Delikte. Eine Serie von Ladendiebstählen fällt zum Beispiel nicht darunter, so groß sie auch sein mag. Auch nicht die einfache vorsätzliche Körperverletzung.

Das heißt, ich könnte massenhaft Faustschläge oder Ohrfeigen verteilen, ohne dass ich festgenommen werde ...
Richtig. Zumindest nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr. Dafür wird nämlich mindestens eine gefährliche Körperverletzung als Voraussetzung verlangt. Eine einfache reicht nicht. Und dann muss auch eine wiederholte und fortgesetzte Begehung nachgewiesen sein.

Und wie sollte man denn das sonst unterbinden?
Man kann natürlich irgendwann an eine psychiatrische Erkrankung denken, wenn sich derjenige nicht davon abhalten lässt. Und in dem Fall wäre auch eine Unterbringung nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt in einer geschlossenen Klinik möglich. Aber auch dafür gibt es wiederum ganz klar definierte Voraussetzungen und auch das muss am Ende ein Richter entscheiden. Es gibt noch die Möglichkeit eines Unterbringungsbefehls. Das sind dann aber wieder andere Voraussetzungen und hat mit der klassischen U-Haft nichts zu tun.

Wenn aber ein Beschuldigter wiederholt eine gefährliche Körperverletzung begangen hat, dann ist die Gefahr aber doch gegeben?
Nicht automatisch. Es muss eine Prognose vorliegen, dass vor einer rechtskräftigen Aburteilung weitere solcher Straftaten begangen werden. Dafür muss es Anhaltspunkte in den Ermittlungen geben.

Eine Prognose ist subjektiv ...
Ja. Und schwierig. Das ist immer eine subjektive Wertung an Hand von objektiven Kriterien. Wir haben es schließlich mit Menschen zu tun, die das Ganze zu bewerten haben. Und das unter enormem Zeitdruck.

Wie sollte es in der Regel funktionieren, wenn es zu schweren Straftaten kommt?
In einem solchen Fall ist es erst einmal Aufgabe der Polizei, in alle Richtungen zu ermitteln, Beweise zu sichern und auch die Grundlagen für weitere Maßnahmen zu prüfen. Wenn die Ermittler zu der Einschätzung gelangen, dass Haftgründe vorliegen, wenden sie sich an die Staatsanwaltschaft. Sie hat dann die alleinige Entscheidungskompetenz, einen Haftantrag zu stellen. Die Juristen dort entscheiden, wie es weitergeht, oder können, wenn nötig, noch Nachermittlungen beauftragen. Stellt die Staatsanwaltschaft dann einen Haftantrag, muss das Gericht einen Erlass prüfen. Das ist alles aus gutem Grund genau vom Gesetz geregelt. Ob das am Ende immer alles reibungslos gelingt, kann ich nicht sagen.

Sind denn Staatsanwaltschaften und Gerichte jederzeit für solche Fälle für die Polizei erreichbar?
Im Amtsgerichtsbezirk Magdeburg ist sichergestellt, dass die Polizei jederzeit einen Staatsanwalt erreichen kann. Einen richterlichen Bereitschaftsdienst gibt es nicht rund um die Uhr, sondern nur in der Zeit zwischen 6 und 21 Uhr. Das reicht auch aus. Andere Gerichte verfahren ähnlich.

Wie lange darf die Polizei einen Beschuldigten in Gewahrsam halten?
Theoretisch darf die Polizei jemanden, ohne dass ein Haftbefehl vorliegt, nur bis zum Ablauf des Folgetages festhalten. Die Rechtsprechung legt diese Vorschrift sehr eng aus. Die Polizei muss deshalb unverzüglich der Staatsanwaltschaft und diese dann dem Haftrichter den Fall vorstellen. Das heißt, eigentlich sollte das alles noch am gleichen Tag erfolgen, wenn es die Entscheidungssituation zulässt. Ein bewusstes Warten bis zum Ablauf der Frist wäre rechtswidrig. Ohne Verurteilung gilt ja die Unschuldsvermutung.

Ab wann sehen Sie eine Fluchtgefahr als gegeben an? Reicht ein Heim schon als fester Wohnsitz?
Es ist egal, wo jemand wohnt. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an. Wenn eine angegebene Anschrift aber gar nicht zum Wohnen genutzt wird, ist das ein Indiz dafür, dass derjenige keinen festen Wohnsitz hat. Das könnte ein Anreiz sein, sich verborgen zu verhalten, muss es aber nicht. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Vorhandensein von sozialen Bindungen. Jemand, der hier fest verwurzelt ist, wird wegen einer verhältnismäßig kleinen Straftat nicht gleich ins Ausland gehen, anders als jemand, der mehrere Sprachen spricht, Geld besitzt und hier gar keine Bindungen hat.

Weiterer Haftgrund ist die Verdunklungsgefahr. Welche Schwierigkeiten gibt es da?
Das meint den Fall, dass Verdächtige Zeugen beeinflussen oder Beweise verschwinden lassen. Die große Schwierigkeit ist oft, diese Einflussnahme gleich zu erkennen, und noch problematischer, sie auch nachzuweisen. Dazu bräuchte man wiederum Zeugen, die aussagen. Wenn es diese aber nicht oder noch nicht gibt, dann wird es schwierig.

Welches ist denn der häufigste Haftgrund?
Mit Abstand Fluchtgefahr. Wiederholungsgefahr hingegen nur selten, weil die Bedingungen eben so eng gefasst sind.