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Verbrechen Eine Stadt unter Schock

Getötetes Kleinkind: Innenminister prüft mögliche Versäumnisse der Polizei / Mutter schweigt weiter

Von Jan Schumann und Robert Briest 14.07.2020, 17:40

Querfurt l Querfurt steht unter Schock, seit der Tod eines zweijährigen Kleinkindes in diesem Neubaublock bekannt wurde. Der Körper des Jungen  wies schwere Verletzungen und Spuren sexuellen Missbrauchs auf. Haben die Behörden Warnsignale im Vorfeld der schrecklichen Tat übersehen? Hier, in diesem Neubaublock, nahm das Unglück seinen Lauf. An der Eingangstür des Wohnhauses in Querfurt (Saalekreis) stehen zwei Schuljungen, betrachten die Kerzen, Blumen, Plüschtiere. Eine ältere Dame kommt hinzu. „Wie kann man nur so etwas tun?“ Sie fragt: „Wie kann eine Mutter so etwas zulassen?“

Der Leichnam des Jungen wurde am Sonnabend gefunden. Die Polizei ermittelt „auf Hochtouren“, wie Staatsanwalt Klaus Wiechmann versichert. In Untersuchungshaft sitzen die 36-jährige Mutter und ihr 30-jähriger Lebensgefährte. Beide schweigen zu der Tat.

Eine Frage, die Nachbarn in diesen Tagen quält: Haben Behörden womöglich nicht genau genug hingesehen? Obwohl Anwohner immer wieder Hinweise auf Probleme in der Familie gaben? Drogenkonsum, nachts lauter Streit – über all das sollen Polizei und Jugendamt über Jahre hinweg informiert worden sein.

Das örtliche Polizeirevier und das Jugendamt schweigen vorerst zu dem Fall. Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) kündigte gestern an, eventuelle Versäumnisse der Polizei zu prüfen.

Michael Hayn (CDU), Chef des Jugendhilfeausschusses im Saalekreis, sagt: Zunächst müsse das Jugendamt den Fall aufarbeiten. „Das macht das Kind aber auch nicht wieder lebendig.“

Der tragische Fall schlägt Wellen bis in die Landeshauptstadt. Das zuständige Sozialministerium in Magdeburg hat nach Informationen der Mitteldeutschen Zeitung bereits Auskunft vom Jugendamt angefordert. Dabei wird es auch um die Frage gehen, ob es Behördenversäumnisse gab. Querfurt – tragisch, aber kein absoluter Einzelfall. Neue Zahlen aus Sachsen-Anhalt zeigen, dass Behörden immer häufiger dem Verdacht der Kindeswohlgefährdung nachgehen müssen.

Knapp 3 600 Verdachtsfälle prüften Jugendämter allein im Jahr 2019. Höchststand, seit die Statistik 2012 erstmals erfasst wurde – und im Gegensatz zum Vorjahr ein Anstieg um mehr als 300 Fälle. Nicht jeder Verdacht bestätigte sich, in drei von vier Fällen lag letztlich keine Kindeswohlgefährdung vor. Dennoch reagierten die Behörden auf die Hinweise häufig mit Hilfs- und Unterstützungsangeboten für betroffene Eltern. „Jeder einzelne Fall ist ein Fall zu viel“, sagt Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD). Und betont: „Der Schutz von Kindern und Jugendlichen bleibt als eine Aufgabe der Jugendhilfe von herausragender Bedeutung.“

Auch extreme Missbrauchsfälle wie in Querfurt registrieren Behörden in Sachsen-Anhalt häufiger, als öffentlich bekannt wird. „Es gibt jährlich ungefähr zehn Fälle dieser Dimension, in denen Kinder infolge von Misshandlung und Gewalt sterben“, erklärt Andrea Wegner, Landesgeschäftsführerin des Kinderschutzbundes. „Das ist erschreckend und schwer verdaulich.“ Sie betont aber zugleich, in aller Regel arbeiteten die Jugendämter makellos. „Wir haben keine Vergleichszahlen dazu, wie es wäre, wenn die Behörden nicht so gute Arbeit leisten würden.“

Dass Behörden zunehmend Verdachtsfällen nachgehen, ist für den Kinderschutzbund ein gutes Zeichen. „Es gibt mehr Aufmerksamkeit für das Wohl der Kinder, deshalb gibt es mehr Hinweise an die Jugendämter“, so Wegner. „Das ist gut. Es geht ja nicht darum, den Eltern die Fähigkeiten zur Erziehung abzusprechen. Sondern darum, Eltern zu unterstützen, die das Beste für ihre Kinder wollen.“

Am häufigsten erhalten Sachsen-Anhalts Jugendämter ihre Warnhinweise auf mögliche Kindeswohlgefährdung anonym. Jeder zehnte Hinweis kommt hingegen von Bekannten und Nachbarn. „Menschen haben in der Regel ein gutes Bauchgefühl dafür, ob es Kindern in ihren Familien nicht gut geht“, sagt Wegner. Etwa dann, wenn sich ein Kind in kurzer Zeit spürbar verändere: Wenn es Verhaltensauffälligkeit entwickele, melancholisch werde oder sich häufig „unsichtbar“ mache.

Bald sind die Nachbarn im Querfurter Neubaublock gefragt. Die Polizei will sie als Zeugen im aktuellen Fall befragen.