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Die ICE-Strecke Berlin – München, Deutschlands größte Baustelle Vom Warten auf den großen Knall

Von Winfried Borchert 02.09.2011, 04:34

Mit einer Länge von rund 660 Kilometern, Kosten von 13 Milliarden Euro und einer Bauzeit von mehr als 20 Jahren ist die ICE-Strecke Berlin-Leipzig-München Deutschlands größtes Bauprojekt. Die Deutsche Bahn will mit ihr die Reisezeit zwischen Berlin und München auf vier Stunden verkürzen und damit dem Flugzeug Konkurrenz machen. Doch der Bau weckt nicht nur Freude.

Halle. Irgendetwas ist anders an dieser Baustelle südlich von Halle, wo sie eine Brücke für die neue ICE-Strecke durch die Saale-Elster-Aue ziehen. Erst auf den zweiten Blick merkt der Laie, was hier los ist: Die gesamte Brücke, die mächtigen Pfeiler als auch der Oberbau, wird ohne Bodenberührung gebaut. "Wir wenden hier die Vor-Kopf-Bauweise an, ein neues Verfahren, um die sensible Pflanzen- und Tierwelt im Saale-Elster-Tal zu schonen", sagt Frank Kniestedt. Die Saale-Elster-Talbrücke, nach ihrer Fertigstellung mit knapp 8,7 Kilometern Deutschlands längste Brücke, tangiert allein drei bedeutende Naturschutzgebiete.

Kniestedt, ein Endvierziger mit Sonnenbrille, Handy-Knopf im Ohr und schnellem Redefluss, ist Pressesprecher der Bahn für das "Verkehrsprojekt Deutsche Einheit (kurz VDE) Nr. 8", das ab 2017 München mit Berlin verbinden soll. Dessen Herzstücke sind die Abschnitte Leipzig – Erfurt und Erfurt – Nürnberg, die im Gegensatz zu den anderen Teilen komplett neu gebaut werden. Allein die 123 Kilometer zwischen Leipzig und Erfurt sollen rund 2,8 Milliarden Euro kosten. Die Bahn will die Fahrzeit zwischen beiden Städten von heute 75 Minuten auf 30 Minuten verkürzen. So schnell ist nicht einmal ein Flugzeug, rechnet man die Zeiten zum Ein- und Auschecken hinzu. "Wir wollen eine umweltfreundliche Alternative zum Flugzeug sein", sagt Kniestedt.

Zumindest umweltfreundlicher als bei Baustellen dieser Größe üblich sieht es tatsächlich aus im Saale-Elster-Tal. Bis auf einen kleinen Abschnitt gibt es neben den neuen Brückenpfeilern keine durch Baustraßen zerfahrenen Wiesen, keine der üblichen Betonmischfabriken, nicht einmal ein Dixi-Klo für die Bauleute. Die gesamte Baustelleneinrichtung steht auf der Brücke selbst.

Bei der Vor-Kopf-Bauweise wird – vereinfacht gesagt – ein riesiges Gerüst vom Talrand ein Stück über den Abgrund geschoben und dann von oben ein Brückenpfeiler und der Oberbau aus Beton gegossen. Anschließend verschiebt man das Gerüst wieder ein Stück und betoniert den nächsten Abschnitt.

<6>Im März 2010 stürzte bei einem Unfall ein solches Gerüst in die Tiefe, ein Arbeiter wurde schwer verletzt. Der Mann habe glücklicherweise bald wieder arbeiten können, doch der Zeitverlust war enorm. Es dauerte fast ein Jahr, ehe die Technik aus der vom Frühjahrshochwasser überfluteten Aue geborgen werden konnte. "Um den Verzug aufzuholen, setzen wir jetzt zahlreichere dieser Gerüste ein als einst vorgesehen", sagt Udo Koppernock in Hallenser Dialekt. Der Bauingenieur mit dem blauen Helm, Dreitagebart und breitem Lächeln, der über die Termine wacht, gibt sich optimistisch: "Die Strecke wird hier wie geplant 2015 befahrbar sein." Dann startet der Probebetrieb. Die gesamte Trasse zwischen Berlin und München soll zwei Jahre später ihren Regelbetrieb aufnehmen.

Polnische Laborratten und ein Hühnerstall

Der Naturschutz begegnet den Bauleuten hier auf Schritt und Tritt. Während der Brutzeiten darf in den Vogelschutzgebieten mehrere Monate lang im Frühjahr nicht gebaut werden. Als Ausgleich für die trotz allem großen Eingriffe in die Natur hat man 1000 Hektar Brachflächen renaturiert, und auch mit dem Rotmilan kennt sich Frank Kniestedt aus. "Weil der Brückenbau in das Jagdrevier des Vogels eingreift, musste ein sogenannter Luderplatz angelegt werden, damit der Milan nicht verhungert."

Jeden Morgen klettert seither ein Mann auf den Mast und legt dort zwei tote Ratten ab, Laborratten aus Polen, wie es heißt. "Der Milan ist aber offenbar ein Spätaufsteher, so dass die Krähen meist schneller sind. Seit wir das wissen, werden auch am Nachmittag Ratten auf den Mast gebracht", erzählt Kniestedt verschmitzt lächelnd.

Glaubt man dem Mann, ist dies nicht die einzige Anekdote. In Gröbers haben sie für den Bahndamm einen Streifen Privatgarten in Anspruch nehmen müssen. Dummerweise habe darauf der Hühnerstall des Besitzers gestanden. "Also haben wir den Hühnerstall abgerissen und dem Mann ein paar Meter weiter einen neuen gebaut."

Von dem werden Reisende aber nicht viel sehen, dafür fährt der ICE viel zu schnell. Bis zu 300 Kilometer pro Stunde sollen auf der Strecke zugelassen sein, selbst in den zahlreichen Tunneln, von denen allein zwischen Leipzig und Erfurt drei durch die Berge getrieben wurden. Um derartige Geschwindigkeiten zu erreichen, muss das Projekt verschärfte Sicherheitsauflagen erfüllen.

Im Gegensatz zu früheren Schnellbahn-Tunnels werden für die beiden Richtungsgleise zwei voneinander unabhängige Röhren gebohrt. Jede erhält bis zu 40 Zentimeter dicke Betonwände. Kopfzerbrechen haben den Planern die Luftdruckverhältnisse in der Tunnelröhre bereitet. Um zu vermeiden, dass der hinter einem Zug entstehende Luftsog Schotter aus dem Gleisbett auf die Schienen wirbelt und den nächsten Zug entgleisen lässt, werden die Schienen in einem Betonbett verlegt. Überhaupt fließen ginantische Mengen an Material in den Bau von Brücken und Tunnels. Allein für den 6,5 Kilometer langen Bibratunnel in der Nähe von Bad Bibra im Burgenlandkreis wurden 17 000 Tonnen Armierungsstahl und 150 000 Kubikmeter Beton verbaut. Von den 4500 Bauleuten, die zwischen Berlin und München an dem Großprojekt arbeiten, werkeln allein 200 am Bibratunnel – Maschinenführer und Elektriker, Tischler- und Betonbauer, Eisenflechter und Ingenieure. Die Tunnel-Leute haben sogar eine eigene Kantine.

In der sitzt Winfried Reich, Ingenieur in der Bauüberwachung, beim Mittagessen. Es gibt Hähnchenbrust mit Röstkartoffeln und als Dessert Pudding. Der hünenhafte Mann aus Stolberg im Südharz sieht zufrieden aus. "Bis zum 31. Oktober wollen wir den Tunnel so weit fertiggestellt haben, dass die Gleise verlegt werden können. Lediglich kleinere Dinge wie die Regenentwässerung müssen noch abgeschlossen werden. Und die Sonic-boom-Bauwerke."

Die was, bitte?

Eine halbe Stunde später, nach einer Fahrt durch eine der beiden Röhren des Osterbergtunnels mit seinem Jeep, erklärt Reich die rätselhaften Bauwerke, die auch etwas mit dem Luftdruck zu tun haben. An die Enden der ovalen Tunnelröhren werden aus Beton mächtige Trichtermündungen gebaut, jede so groß wie das Schiff einer Dorfkirche. Auch die seitlichen Schlitze vermitteln den Eindruck von Kirchenfenstern.

Tunnelausgänge wie Geschütz-Mündungen

"Diese Mündungen sollen so wirken wie der Schalldämpfer einer Kanone", erläutert Ingenieur Reich. Denn der durchfahrende Zug – wenn man so will, die Kanonenkugel – erzeugt nicht nur hinter sich einen mächtigen Sog, sondern presst die im Tunnel stehenden Luftmassen mit so hoher Geschwindigkeit zusammen, dass sich vor ihm eine Druckwelle mit Schallgeschwindigkeit ausbreitet. Erreicht diese das Tunnel-Ende, kann es zu einem Überschall-Knall (engl. Sonic boom) kommen.

Soweit die Theorie. Praktische Erfahrungen mit dem Phänomen gibt es in Deutschland nicht, weil Doppel-Röhren-Tunnel im deutschen Bahnbau relativ neu sind und die bereits in Betrieb befindlichen Exemplare nicht für 300 km/h zugelassen sind. Zwar besteht die Knallgefahr bei den alten, zweigleisigen Tunnels nicht, doch gelten sie als deutlich unsicherer als die neuen.

"Nach intensiven Computersimulationen hat man sich für diese Tunnel-Enden hier entschieden", erzählt Winfried Reich. Ob sie funktionieren, wird sich erst im Probebetrieb ab 2015 zeigen. Bis dahin heißt es, warten auf den großen Knall.

Bevor der ICE dereinst den Bibratunnel Richtung Südwesten durchfahren hat, passiert er eine neue Brücke, die ebenfalls eine Innovation darstellt. Im Gegensatz zur herkömmlichen Bauweise, bei der ein beweglicher Oberbau auf mächtigen, feststehenden Pfeilern ruht, hat man bei der Unstruttal-Brücke jeweils zwei Pfeiler mit einem Oberbau-Segment fest verbunden. "Diese Bauweise ermöglicht wesentlich schlankere Pfeiler als früher. Das schont das Landschaftsbild und spart gleichzeitig Material und Kosten", erklärt Frank Kniestedt.

Im Örtchen Karsdorf ist die Brücke so etwas wie das neue Wahrzeichen. Mit fast 50 Metern ist sie fast doppelt so hoch wie die Karsdorfer Laurentiuskirche. Ein Großteil des Betons für die Strecke bis nach Bayern kam aus dem Karsdorfer Zementwerk. Doch das örtliche Kulturhaus, vor dessen Eingang zwei jugendliche Mädchen in der Sonne dösen, macht einen desolaten Eindruck. Die Züge werden an Karsdorf vorbeirasen. Genauer, darüber hinweg.

Während sich die Bewohner größerer Städte an der Strecke wie Halle, Leipzig oder Erfurt auf die schnellen Verbindungen freuen dürften, geht in den kleineren Städten die Furcht um, dem schönen Zug nur hinterherzuschauen.

Besonders im Saaletal, auf dessen kurvenreichen Gleisen die ICE zurzeit mit deutlich niedriger Geschwindigkeit unterwegs sind, betrachtet man die absehbare Fertigstellung der neuen Strecke mit Sorgen. In Städten wie Weißenfels und Naumburg in Sachsen-Anhalt, Saalfeld, Rudolstadt, Weimar und Jena in Thüringen, Kronach und Lichtenfels in Bayern. Sie haben sich zu einer "Initiative Städtenetz" zusammengeschlossen und wollen den Bund als Eigentümer der Bahn in die Pflicht nehmen.

Jürgen Leindecker, Geschäftsführer des sachsen-anhaltischen Städte- und Gemeindebundes und einer der Initiatoren des Netzwerks, fasst es so zusammen: "Wir fordern, dass der Bund die Deutsche Bahn zu einem Betriebskonzept verpflichtet, das nicht nur Metropolen, sondern auch die Regionen an den Fernverkehr anschließt. Schließlich gehört die Bahn dem Staat. Demzufolge darf sie nicht allein nach unternehmerischen Gesichtspunkten entscheiden, sondern muss sich auch am Gemeinwohl orientieren." Laut Leindecker weigere sich die DB allerdings bislang, mit der Städte-Initiative überhaupt über ein Betriebskonzept zu reden. Weil man sich auch vom Bund bislang "allein gelassen" fühle, wolle man jetzt verstärkt Bundes- und Landtagsabgeordnete auf diese Problematik aufmerksam machen.

Furcht in Naumburg, Weißenfels und Jena

Zumindest bei den Grünen im Bundestag dürften sie damit auf offene Ohren stoßen. Deren Verkehrsexperte Anton Hofreiter, zugleich Chef des Bundestags-Verkehrsausschusses, verlangt von der CDU/FDP-Bundesregierung, beim Schienenausbau neue Prioritäten zu setzen. Die Regierung müsse "endlich von teuren Hochgeschwindigkeitsstrecken Abstand nehmen und sich stattdessen auf die Beseitigung von Engpässen konzentrieren, um Kapazitäten für den Güterverkehr zu schaffen", sagte Hofreiter. Zugleich forderte er, dass die Bahn ihre Gewinne aus dem Schienennetz vollständig in die Erhaltung der Strecken investieren müsse. "Nur so kann verhindert werden, dass das bundeseigene Schienennetz, das der DB Netz AG als Tochter der Deutschen Bahn AG gehört und von ihr betrieben wird, weiter auf Verschleiß gefahren wird."