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Welthundetag Helfer auf vier Pfoten

Ihr Können macht sie zu tierischen Helden. Zum Welthundetag haben wir uns besonders fleißige Vierbeiner in Sachsen-Anhalt genauer angesehen.

Von Janette Beck 10.10.2018, 01:01

Magdeburg l Dass Mathe zu den Lieblingsfächern von Steven, Caine & Co. zählt, wäre glattweg gelogen. Aber alles ist nur halb so schlimm und anstrengend für die lernbehinderten Siebtklässler, wenn Nugget im Unterricht dabei ist und ihnen beim Rechnen hilft. Dann spitzen auch die Jungs die Ohren, konzentrieren sich auf die Aufgaben, strengen sich an, auf das richtige Ergebnis zu kommen, und überhören bei so viel Lernspaß auch schon mal die Klingel.

Nugget ist einer von drei Schulhunden an der Förderschule in Klein Oschersleben. Genau wie Joana und Coffee lebt der goldige Vierbeiner bei Lehrerin Karola Wesemeier. Sie schwört seit zehn Jahren auf die tiergestützte Pädagogik und hat einschlägige Erfahrungen mit dem Einsatz von Hunden im Schulalltag: „Wo unsereins an Grenzen stößt, können die Hunde als Eisbrecher wirken. Sie unterstützen die schulische, soziale und körperliche Entwicklung der Kinder.“

Auf eigene Kosten (rund 1500 Euro pro Hund) ließ die Lehrerin ihre drei Norfolk Terrier zu Therapiebegleithunden ausbilden. „Nugget ist besonders pfiffig. Er liebt es, mit Kindern zu arbeiten“, erklärt „Frauchen“, warum das Nesthäkchen oft zum Einsatz kommt. Ein dreiviertel Jahr ging der Vierbeiner in Magdeburg in die Hundeschule. Bereits im Welpenalter fing er an, die speziellen Fähigkeiten eines Schulhundes zu trainieren.

„Er kann mit der Pfote Zahlen würfeln, die wir malnehmen müssen oder Aufgaben aus dem Bällebad ziehen“, erklärt Steven stolz und strahlt. Aus gutem Grund: Im Rahmen der Schülerfirma „Scool Dogs & Kids“ trainiert er fleißig nach dem Unterricht mit den Vierbeiner die spaßbetonten Interaktionen. Die funktionieren auch im Deutsch-Unterricht. Nugget ist beim Lesen ein guter Zuhörer, lauscht geduldig und lacht nicht, wenn Fehler gemacht werden. Er hofft mit treuen Hundeaugen und wedelndem Schwanz nur auf ein Leckerli. Das darf nämlich nur der verteilen, der gute Leistungen zeigt. Auch Caine schwärmt: „Beim Sportunterricht zeigt uns Nugget, wie man alleine über eine Bank balanciert oder über Hindernisse springt.“ So lernen die Kinder, Ängste zu überwinden.

Vor allem aber vermag der tierische Schulfreund wie kein anderer zu trösten, wenn auf dem Schulhof ein Streit in Tränen endet. Auch kann der zweijährige Terrier ein ADHS-Kind beruhigen, wenn es hibbelig wird und dem Unterricht nicht folgen kann. Dann darf es mit aufs Hundesofa und Nugget streicheln. Das wirkt Wunder.

Großen Einfluss auf das Sozialverhalten hat zudem, dass es feste Regeln gibt: „Hände waschen nach dem Unterricht!“, „Schultaschen zu, damit das Pausenbrot nicht geklaut wird!“, „Nicht schreien, weil Hunde viel lauter hören!“, kommt es von den Jungs wie aus der Pistole geschossen. Die Pädagogin hat bei vielen ihrer Schüler eine positive Veränderung durch die Hundetherapie beobachtet. „Sie werden ruhiger, aufmerksamer und achten gegenseitig aufeinander.“ Was aber nicht heiße, dass es immer auf Anhieb klappt. „Es gibt natürlich auch Kinder, die haben Angst vor Hunden. Dann muss man sich langsam an die gemeinsame Arbeit herantasten.“ Doch bis jetzt habe Nugget noch jedes Kinderherz erobert, versichert Karola Wesemeier: „Er hat‘s einfach drauf.“

Drauf hat es auch Lilly. Allerdings muss sie als Assistenzhündin ganz spezielle Fähigkeiten haben. Die Labrador-Hündin ist vor allem als Seelenöffner und Seelentröster gefragt, denn Tim Rodemeier ist Autist. Typisch für das nicht heilbare Asberger-Syndom, das bei dem 21-Jährigen im Alter von sieben Jahren diagnostiziert wurde, sind Einschränkungen im Interaktionsverhalten, mangelndes Einfühlungsvermögen, Spezial-Interessen oder das Festhalten an Gewohnheiten und Ritualen.

Der Autismus hat Tim zum Außenseiter und Einzelgänger gemacht. „Das Leben war für ihn teilweise die Hölle. Er wurde in der Schule und später im Berufsausbildungszentrum viel gemobbt“, blickt Anja Rodemeyer auf den bis dato schweren Lebensweg ihres Kindes zurück. Aufgrund seines sonderbaren Verhaltens und der Tics wird ihr Sohn oft als dumm abgestempelt. „Das macht es ihm schwer, das Anderssein und sich selbst anzunehmen. Dabei ist er belesen und hat einen sehr guten Realschulabschluss gemacht.“

Dass er keine Freunde hat, darunter leidet der schwerbehinderte junge Mann, der ein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird, am meisten. „Irgendwann kam Tim zu mir und sagte: Ich möchte auch einen Freund haben, der mich mag und lieb hat. Das brach mir das Herz“, erinnert sich die Mutter.

Auf den Hund gekommen ist sie, weil Tim mit dem Labradorrüden Simba, der bei der Behandlung in einer tiergestützten Ergotherapie zum Einsatz kam, recht gut zurecht kam. Die Mutter begann zu recherchieren und stieß auf das Thema Assistenzhund. Mit einer naiven Blauäugigkeit habe sie zig Hundeschulen angeschrieben, Anträge ausgefüllt und Unterstützung gesucht. Um schnell an Grenzen zu stoßen. Von den Hundeschulen kam keine oder nur negative Reaktionen. Von den Problemen, die Ausbildung eines Autismus-Assistenzhundes zu finanzieren, ganz zu schweigen. „Die Krankenkassen lehnen eine Beteiligung an den Kosten ab. Und alleine sind rund 25.000 Euro durch uns nur schwer zu stemmen.“

Anja Rodemeier war ratlos, bis sie in einem Magazin auf einen Beitrag über Kati Zimmermann stieß. Sie betreibt in Eckernförde die Akademie für Assistenzhunde (AFA) und hat in Magdeburg eine Zweigstelle. „Von Kati bekam ich sofort eine Antwort. Sie ließ mich wissen, dass sie gerne die Herausforderung annimmt, einen Assistenzhund für Tim auszubilden.“

Im März 2017 startete schließlich das Projekt „Ein Freund für Tim“. Ein Spendenkonto wurde eröffnet. Im Alter von acht Wochen begann Lilly die Ausbildung zum Assistenzhund. Der junge Mann hatte den Labradorwelpen selbst auserwählt. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt die Mutter. Inzwischen hat die Hündin fast alles drauf, was sie können muss, um ihrem Herrchen zu helfen. Seit dem Sommer heißt es „Learning by doing“, Lilly geht bereits wochenweise bei den Rodemeiers ein und aus.

„Sie ist ein Schatz“, sagt Anja Rodemeier und ist glücklich. „Lilly gibt Tim das Gefühl, geliebt zu werden, so wie er ist.“ Die Hündin fordert ihr Recht und fordert damit den Sohn. Was den Eltern kaum gelang, gelingt ihr: Sie hat es geschafft, in Tims Welt vorzudringen, sie gibt dem Sohn Sicherheit, Selbstvertrauen, Mut und macht ihn so stark für „die Welt da draußen“.

Dass er alleine in eine Buchhandlung geht, oder auch nur die Tür zu seinem Zimmer offen hält und er am Familienleben teilnimmt, daran sei früher nicht zu denken gewesen, sagt die Mutter: „Lilly hat Wunder vollbracht. Plötzlich lässt Tim körperliche Nähe zu. Er zeigt Empathie und kümmert sich liebevoll um den Hund.“ Warum? Tims Antwort: „Lilly soll es bei mir gut haben, sie schenkt mir doch ihr ganzes Leben.“

Hundeverhaltenstherapeutin Christina Jacobs geht das Herz auf, wenn sie hört, welchen tollen Job Lilly und Nugget machen. Bei der 30-jährigen Magdeburgerin befinden sich derzeit drei Hunde in der zweijährigen Ausbildung zum Helferhund. Die Welpen kommen ausschließlich vom Züchter und werden vom zukünftigen Besitzer ausgesucht. Fünf Tage in der Woche müsse drei bis vier Stunden trainiert werden: Je nach Bedarf des zukünftigen Besitzers lernt der Hund die geforderten Hilfeleistungen.

Fay ist eine der drei Assistenzhunde in spe. Allerdings lebt die Collihündin nicht wie ihre „Mitschüler“ in Patenfamilien, sondern bei der Assistenzhundetrainerin. Und Frauchen hat erkannt: „Fay ist eine Alleskönnerin. Sie ist sehr gelehrig, neugierig, und das Arbeiten macht ihr riesig Spaß. Das macht sie zu einer perfekten Ausbilderin für die künftigen Welpen. Die lernen viel besser von einem Hund als vom Menschen.“

Während des Gesprächs in einem Café döst Fay samt neonfarbender Weste, die sie als „Assistenzhund in der Ausbildung“ kennzeichnet, unterm Tisch. Als sich Christina Jacobs in Rage redet, weil sie bei der Ausbildung der Hunde oft auf Unverständnis stößt und ihr das lebensnahe Training in einem Möbelhaus verwehrt wird, schaut die Hündin plötzlich besorgt auf. Unaufgefordert hüpft sie auf den Schoß der jungen Frau und kuschelt. „Runterkommen, Kleine! Alles ist gut, ich bin da!“, scheint sie zu sagen. Die Abschlussprüfung kann kommen, es winkt ein Einser-Hundeabitur ...