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Depressionen und Angstzustände durch Überlastungen im Berufsalltag / Insbesondere im ländlichen Raum gibt es wenig Hilfe Wochenlange Wartezeiten bei Psychiatern, weil immer mehr Menschen seelische Probleme haben

Von Oliver Schlicht 08.11.2011, 05:25

Immer mehr Sachsen-Anhalter leiden unter psychischen Erkrankungen. Obwohl die Zahl der Psychiatrie-Praxen stetig steigt, müssen Betroffene zumeist wochenlang auf eine Behandlung warten.

Magdeburg l Dr. Lenka Stasinski, Fachärztin für Psychiatrie, hat im April dieses Jahres eine Praxis in Schönebeck eröffnet. Zuvor hat die junge Frau in einem Magdeburger Klinikum gearbeitet. Die Ärztin arbeitet überwiegend als ärztliche Psychiaterin, aber auch als Therapeutin. "Die Nachfrage ist sehr groß", erzählt sie. Durchschnittlich 20 Patienten behandelt sie täglich. Etwa 600 Patienten haben ihre Praxis bislang bereits aufgesucht. "Derzeit beträgt die Wartezeit auf einen Termin drei Wochen. Von Kollegen, die schon länger praktizieren, weiß ich, dass Wartezeiten von zwei Monaten nicht ungewöhnlich sind", so die Ärztin.

Immer mehr Männer und immer mehr Berufstätige

Die meisten Patienten leiden an Depressionen, Angstzuständen oder Auswirkungen von Demenzerkrankungen. "Es kommen immer mehr Berufstätige und immer mehr Männer", erzählt sie. Die Arbeitsverhältnisse mache vielen Menschen zu schaffen. "Immer weniger müssen immer mehr Aufgaben erfüllen. Da ist man nicht krank. Da wird man krank", so die Psychiaterin. Ihre Praxis sei bemüht, die Menschen mit gezielten Rehabilitationsprogrammen zu schulen, damit sie besser mit den hohen Belastungssituationen umzugehen lernen. Dr. Stasinski: "Nicht immer sind wir damit erfolgreich. Dann hilft nur noch, den Aufgabenbereich oder sogar den Arbeitsplatz zu wechseln."

Es gibt in Sachsen-Anhalt ein zunehmend großes Geflecht von niedergelassenen Psychotherapeuten, Psychiatern, Fach- und Reha-Kliniken. Doch die medizinische Versorgung scheint dem hohen Bedarf trotzdem nicht gewachsen zu sein. Laut Statistischem Landesamt wurden 2009 in Sachsen-Anhalt 60900 ambulante Behandlungsfälle von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten registriert. Bei der Anzahl der Behandlungsfälle in Krankenhäusern liegt das Bundesland deutlich über dem Bundesdurchschnitt (Grafik).

"Auch bei uns müssen Patienten mit mehreren Monaten Wartezeit rechnen", sagt Prof. Jörg Frommer, Chef der Magdeburger Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Weil die Versorgung im ländlichen Raum noch viel geringer als in der Stadt ist, kommen die Patienten aus einem 50-Kilometer-Umkreis nach Magdeburg. Erst 2010 war die auf die therapeutische Betreuung spezialisierte Klinik aus der Klinik für Psychiatrie ausgegründet worden. Eine Verdoppelung der Bettenkapazität von jetzt nur zehn auf 20 Betten ist für 2012/13 vorgesehen.

Viele Fälle von Depressionen, die häufig mit Überlastungen im Arbeitsumfeld zu tun haben, gibt es auch hier. In der Klinik werden daneben auch Menschen behandelt, die traumatische Erfahrungen wie Vergewaltigung oder Unfälle nicht verarbeiten können. Hinzu kommen zum Beispiel Menschen mit Essstörungen wie Bulimie oder Esssucht.

Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen mehr thematisiert

Ist die Zunahme von psychischen Erkrankungen wirklich vorrangig mit der veränderten Arbeitswelt zu erklären? Prof. Frommer glaubt, das stimme nur zum Teil: "Grundsätzlich hat sich die Lebenssituation der Menschen in Sachsen-Anhalt seit der Wende dramatisch verbessert. Das lässt sich an vielen Parametern festmachen. Damit einher geht aber ein gewachsener Anspruch, sich mit den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten auseinanderzusetzen."

Die Qualität von zwischenmenschlichen Beziehungen wird zum Beispiel heute viel mehr thematisiert als früher. Frommer: "Mit dieser Entwicklung geht eine grundsätzliche Enttabuisierung der Inanspruchnahme von Hilfe bei psychischen Problemen einher."

Der im Oktober veröffentlichte Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung in Sachsen-Anhalt - ein vom Sozialministerium berufenes Expertengremium - stellt der Versorgungssituation im Land ein schlechtes Zeugnis aus. "Die psychiatrische Versorgung ist den Realitäten nicht gewachsen." Die Zahl der niedergelassenen Nervenärzte und Psychotherapeuten liege seit Jahren unter der Hälfte des Bundesdurchschnittes. Deshalb suchen viele Patienten ihr Heil in den Kliniken. "Doch auch hier fehlt es vielerorts an Fachärzten", beklagt der Bericht.

Regionale Bedürfnisse besser berücksichtigen

Für die Sicherstellung der ambulanten kassenärztlichen Versorgung ist die Kassenärztliche Vereinigung (KV) zuständig. Gibt es eine Schieflage zwischen dem Bedarf und der Zahl der zugelassenen Nervenärzte und Psychotherapeuten? Dr. Burkhard John, Vorstandsvorsitzender der KV Sachsen-Anhalt: "Die gibt es nicht mehr oder weniger wie bei anderen Fachärzten auch." Seine Hoffnung sei, dass die jetzt im Bundesausschuss diskutierten neuen Festlegungen zur Bedarfsplanung mehr auf die regionalen Bedürfnisse zugeschnitten seien. John: "Es ist aber auch schon jetzt möglich, einen Sonderbedarf zuzulassen, wenn dies notwendig ist. Im Bereich der ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten wird das längst getan. Das ist die Gruppe, die im Moment am meisten zunimmt."

Der maximale Bedarf werde nach einem komplexen Zulassungsschlüssel bei 110 Prozent Versorgung angenommen. Im nördlichen Sachsen-Anhalt werde die Überschreitung dieses Wertes mit Blick auf die demografische Entwicklung der Bevölkerung bereits vielfach zugelassen (Grafik). Der Negativtrend bei der Bevölkerungsentwicklung werde die Lage in Zukunft weiter entlasten. John hofft, dass der 2010 ins Leben gerufene Modellversuch in der Altmark, Filial-Praxen zur ländlichen Versorgung einzurichten, auch die Versorgung mit Psychotherapeuten verbessern hilft. Vier solcher Praxen, die sich Mediziner verschiedener Fachrichtungen teilen, gibt es in der Altmark bereits.

Und mehr Geld wäre für die ärztliche Versorgung in der Fläche auch hilfreich, so der KV-Chef. "Ambulante Ärzte verdienen in Sachsen-Anhalt etwa 16 Prozent weniger als in anderen Bundesländern. Damit lockt man keine jungen Ärzte in die Niederlassung."