Chusovitina zwischen Todesangst und Sprung-Manie
London - Im Olympischen Dorf wird sie ständig angesprochen. Viele wollen ein Autogramm, andere ein Foto mit ihr. Chinesinnen haben sie schon vor ihr verneigt - Oksana Chusovitina ist eine Legende. Vor dem letzten Wettkampf ihrer Karriere macht sie aus ihren Sprüngen ein Geheimnis.
husovitina wirkt ein wenig mürrisch, als sei sie mit dem falschen Fuß aufgestanden. Als die Reporter in der Cafeteria des olympischen Dorfes nicht locker lassen, versucht es die mit Abstand älteste Turnerin der Weltelite mit Scherzen. Auf die Frage, welche Sprünge sie denn am Sonntag im Olympia-Finale zeigen wird, kommt nur trocken: "Zwei verschiedene". Damit hat sie die Lacher auf ihrer Seite.
Gedankenverloren spielt die 37-Jährige mit ihrem Kettchen, an dem ein silberner Sprungtisch bammelt. Chusovitina will nicht verraten, ob sie - wie bei ihrer Silbermedaille 2008 - den Tsukahara mit zwei Schrauben wagen wird oder nicht. Seit Peking hat sie ihn nicht mehr gezeigt. Wenn sie in London eine Medaille will, muss sie den schwierigen Sprung stehen. In der Qualifikation hatten ihr noch eineinhalb Schrauben zu Rang vier gereicht.
Und um ein wenig vom Thema abzulenken, schiebt sie keck nach: "Ich denke, die Kampfrichter sind sauer, weil ich immer noch da bin." Sie kokettiert ein wenig mit ihrem "biblischen" Turnalter und ihrer sechsten Olympia-Teilnahme. Im Finale trifft sie auf Janine Berger, die mit 16 Jahren jüngste deutsche Olympia-Teilnehmerin. Die Ulmerin wurde geboren, als Chuso ihre zweiten Spiele in Atlanta 1996 angesteuert hatte. Ob sie sich manchmal wie Janines Mutter fühle, verneint die im usbekischen Buchara geborene Oksana. "Sie ist ja viel größer als ich."
Wahrlich wirkt sie mit ihren nur 1,53 Metern wie ein Floh neben der jungen Blondine. Pure 43 Kilo Power stecken in ihrem sehnigen, muskelbepackten Körper. 17 Medaillen bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften hat sie gewonnen - 14 davon am Sprung. In Peking war sie mit 33 die älteste Olympia-Medaillengewinnerin der Turn-Geschichte. "Die Kampfrichter vergeben keine Punkte für das Alter", spöttelt sie weiter und man sieht ihr nicht an, was sie in ihrem Leben alles durchmachen musste.
Nach dem Olympiasieg mit 17 Jahren und weiteren Erfolgen in früher Jugend hatte sie schon 1998 ihren Rücktritt erklärt, weil Sohn Alisher zur Welt kam. Kurz nach ihrem Comeback, erkrankte ihr Liebling an Leukämie. Kein Arzt in Taschkent oder Moskau konnte ihm helfen. Oksana war mit den Nerven am Ende, für Alisher schien es keine Rettung zu geben. Doch sie turnte sich ihren Frust weg und fand in Deutschland unverhoffte Hilfe. Die Kölner Trainerin Shanna Poljakowa kannte einen Spezialisten, der Rat wusste. Ein Spendenaufruf in der gesamten Turnwelt brachte 250 000 D-Mark ein, die für die aufwendige Behandlung gut angelegt wurden. Um ganz nah bei ihrem todkranken Sohn zu sein, verlegte sie ihren Wohnort nach Köln und erhielt 2006 auch die deutsche Staatsbürgerschaft.
Heute ist der Sohn 13, spielt Fußball, ist quietschfidel - und der größte Kritiker seiner sprungverrückten Mama. "Er kritisierte mich, als ich bei der EM in Brüssel die Beine nicht perfekt geschlossen hatte. Hättest Du das gemacht, wäre es nicht Silber, sondern Gold geworden", habe der Sprössling angemerkt, berichtet sie grinsend. Am Sonntag wird er mit seinem Vater, dem früheren Spitzenringer Bachodir Kurbanow, die Mama von der Tribüne aus anfeuern. "Danach gibt es ein halbes Jahr Urlaub", sagt Chuso erleichtert. "Endlich mal nicht jeden Morgen so früh aufstehen, sondern nur noch genießen..." Und am 1. Januar 2013 wird sie dann ihren Trainerjob am Olympia-Stützpunkt Bergisch Gladbach antreten und ihr Fachwissen an den deutschen Nachwuchs weitergeben.