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Unterwegs mit Christian Hottas Der Weltrekordler: Jeder Lauf ist ein Geschenk

10.09.2011, 04:31

Mit mittlerweile 1754 - ja liebe Leser, sie haben richtig gesehen - Eintausendsiebenhundertvierundfünfzig Marathon- und Ultramarathonläufen ist der Hamburger Sportmediziner Christian Hottas seit dem 3. August 2011 und dem Leon Uris Marathon an den Hamburger Teichwiesen alleiniger Weltrekordhalter. Kein Mensch auf der Erde hat also mehr solcher Läufe absolviert als Hottas, der am Wochenende auch den Gardelegener Stadtwallmarathon unter die Schuhe nahm - bereits zum elften Mal übrigens.

Live vom Gardelegener Stadtwallmarathon berichtet:

Sportredakteur

Thomas Koepke

Gardelegen. Ich für meinen Teil wollte den Rekordler bei seinem Lauf Nummer 1753 in Gardelegen ein Stückchen begleiten, nur ein Stückchen, Teil des Ganzen sein, wollte wissen wie es in ihm aussieht, wenn er läuft. Ich war gespannt, was er zu berichten hatte - nicht vor, nicht nach, sondern während eines Rennens. Wie ich später noch erfahren sollte, war auch diese Form des Befragens neu für ihn - für einen Mann, der mehr Kilometer in seinen Beinen haben dürfte, als so manch einer mit seinem Auto jemals zurücklegen wird.

"Alles klar, so machen wir das"

Es ist Sonnabendmorgen, kurz vor 9 Uhr. Wallmarathon-Organisatorin Brunhilde Schreiber und Bürgermeister Konrad Fuchs stehen bereit, Schreiber mit dem traditionellen Startfunkwecker in der Hand und Fuchs mit fragendem Blick. "Wo ist Christian Hottas?", schien er zu grübeln. "Stimmt", denke ich, "wo ist er eigentlich?" Alle übrigen Teilnehmer sind schon da, fiebern dem Start entgegen. "Ah, da kommt er ja". Bürgermeister Fuchs erblickt ihn zuerst, als er gelöst und mit entspannter Ruhe aus Richtung Nikolaikirche zur Startlinie schlappt. Ich bin auch wieder ruhiger, immerhin ist ja ein Live-Bericht geplant. Mir bleibt nur Zeit für eine flüchtige Begrüßung und einer kurzen Absprache. "Alles klar, so machen wir das", sagt der praktizierende Sportmediziner und stellt sich förmlich noch im selben Atemzug hinter die Startlinie. "Fünf, vier, drei, zwei, eins und los geht\'s". Gemeinsam zählen Schreiber und Fuchs den Countdown runter und schicken die 19 Unentwegten auf den 2,283 Kilometer langen Rundkurs.

Mir war in diesem Moment bewusst, dass es nun kein Zurück mehr geben wird, nicht für mich und für Hottas schon gar nicht. Kneifen will ich ohnehin nicht. Ich hatte aber noch drei, vier Runden Zeit, ehe ich in den Lauf einsteigen würde. Aufgrund des Lauftempos von Hottas blieben mir also noch knapp 70 Minuten. Noch schnell ein paar Bilder geschossen vom Start des Halbmarathons und von den Läuferinnen und Läufern auf der Strecke, eine leckere Tasse Kaffee - frisch aufgebrüht von Ingo Klöpper - zur Beruhigung und bereit war ich für das große Laufabenteuer.

Ich hatte mich natürlich sportlich gekleidet. Laufhose und -schuhe durften nicht fehlen, mein Outfit sollte wenigstens optisch ein bisschen den Eindruck vermitteln, als könnte ich den gesamten Lauf locker durchhalten. Mit dem Aufnahmegerät in der rechten Hand, der Aussicht auf drei spannende, informative, vielleicht auch sehr anstrengende Runden und mittlerweile einem Aufregungspuls von 140 Schlägen pro Minute lauere ich auf Christian, der nicht mehr lange auf sich warten ließ. Ein kurzer Blickkontakt, ein kleines Nicken, ein Heranwinken seinerseits und schon war ich mittendrin in einem echten Marathonrennen.

Es ist Runde fünf für Hottas, er hatte also bereits über neun Kilometer absolviert. Der Reißverschluss seiner "Klimaanlage", wie er selbst seine schwarze Laufweste bezeichnet, ist nur ein wenig geöffnet. Ein klares Indiz dafür, dass ihn die bisherigen vier Runden nicht allzu sehr angestrengt haben. "Das ist die beste Klimaregulierung, die ich haben kann. Wird mir zu warm, mache ich den Reißverschluss auf, ist mir zu kalt, mach ich ihn halt wieder zu". Der Einstieg war geschafft, die Chemie stimmt zwischen uns. Und Christian Hottas beginnt zu erzählen. Ich muss gar nicht viele Fragen stellen, es sprudelt förmlich aus ihm heraus.

"Seit genau einem Monat bin ich alleiniger Weltrekordhalter von Marathon und Ultramarathonläufen. Am 3. August habe ich Horst Preisler mit meinem 1741. Lauf überholt", berichtet Hottas. Mittlerweile haben wir die Rudolf-Breitscheid-Straße in Höhe Stendaler Tor überquert und bewegen uns mit knapp 8 Kilometer pro Stunde in Richtung Guliver-Spielplatz. Zeit genug für den Hamburger Ausdauersportler, mir von den Anfängen seiner Laufkariere zu erzählen.

"Das war genau vor 24 Jahren, im April 1987. Ich hatte ein wenig trainiert, habe 10-, 15- und auch schon 20-Kilometerläufe absolviert. Meine Wohnung lag zu der Zeit genau an der Marathonstrecke, und da dachte ich mir, das probierst du einfach mal aus und läufst mit". Gesagt - getan. Hottas lief mit und kam ins Ziel. "Ich war überglücklich und total stolz auf mich. Zu diesem Zeitpunkt war mir aber noch nicht klar, welche Tragweite das Laufen einmal erreichen sollte".

Ich bin überrascht. Nicht, weil Hottas seinen ersten Marathon eigentlich ohne richtige Vorbereitung durchhielt, sondern vielmehr darüber, dass wir beide bereits das Salzwedeler Tor und auch schon den Stadtgraben passiert hatten. Die erste Runde ist für mich also schon fast geschafft. Der Weltrekordler berichtet indes weiter, dass im Jahr 1987 noch sechs weitere Marathonläufe folgten. "Hinzu kam noch ein 80-Kilometer-Lauf, bei dem ich allerdings sehr viel Lehrgeld zahlen musste". Ein Lächeln kann sich Hottas dabei aber nicht gänzlich verkneifen, wohl wissend, dass ein 80-Kilometer-Lauf heute für ihn wohl keine großartige Herausforderung mehr darstellt. Herausforderungen sehen nämlich ganz anders aus. Für mich auch. Aber in anderer Hinsicht, denn es folgt bereits Runde zwei. Den Verpflegungsstand lasse ich unbeachtet und rechts liegen, Hottas nicht. "Junge, du musst trinken und eine Kleinigkeit essen, sonst wird das nichts". Ich winke locker ab. "Das wird schon gehen", sage ich ihm mutig. Und es ging auch - noch zumindest.

"Herausforderungen gibt es so einige"

"Zurück zu den Herausforderungen", stuppse ich Hottas an. "Ach ja, da gibt es natürlich so einige. Mitte Juli war ich beim Worldcup-Rennen in Köln, da waren 48 Stunden auf der Bahn zu absolvieren". Als Hottas noch die gelaufenen 214 Kilometer als Information hinterher schiebt, bleibt mir fast die Luft weg, die ich mittlerweile aber dringend dafür benötige, um Schritt zu halten. Und ich halte aber Schritt, viel zu interessant und zu sehr vertieft ist das Gespräch. Auch an den Lauf vor 14 Tagen an der Berliner Mauer entlang, "immerhin ist der auch fast 161 Kilometer lang", erinnert sich Hottas. Ich staune natürlich nicht schlecht, stelle mir vor, wie es sei, wenn ich das probieren würde. Stopp, ich brauche in meiner Verfassung daran wohl keinen einzigen Gedanken verschwenden.

Später erfahre ich noch vom "Thames Ring Race" in England, das 400 Kilometer lang ist, oder von einem Marathon in einem Salzbergwerk, wohlgemerkt 700 Meter unter der Erde. Gemeinsam mit Laufpartnerin Christine Schröder war Hottas auch Finisher beim "Grand Union Canal Race", welches von Birmingham nach London über 148 Meilen führt. "Einfach verrückt, der Kerl", denke ich.

Die zweite Wallrunde ist indes geschafft. Nun habe auch ich schon 4,5 Kilometer in den Beinen, was sich natürlich schon bemerkbar macht. Der Schweiß läuft, die Schuhe drücken, doch Schlappmachen gilt nicht - für mich nicht und für Christian Hottas schon gar nicht. Wir sind völlig vertieft im Gespräch, nehmen die ermunternden Anfeuerungsrufe im Zielbereich nur peripher wahr.

"Ich trage Mitschuld an diesem Lauf"

Christian Hottas legt mir dann in Runde drei ein echtes "Schuldgeständnis" ab. Es ist aber ein schönes Schuldgeständnis, denn ohne Hottas hätte es den Gardelegener Stadtwallmarathon wohl nie gegeben. "Kathrin Schreiber hat mich vor elf Jahren angemailt und wollte hier in Gardelegen einen Marathon organisieren. Ich habe Tipps gegeben und bei der Organisation geholfen. Also trage ich quasi Mitschuld daran, dass es diesen schönen Lauf in Gardelegen gibt". Und schwupps fällt ihm schon die nächste Geschichte dazu ein. "Kathrin und ich sollten uns dann die Startnummern für den ersten Gardelegener Lauf aussuchen, wobei ich wollte, dass sie die Nummer 1 bekommt, und sie aber wollte, dass ich sie nehme. Aber das kleine Problemchen löste sich von selbst. Sie bekam die 1 und ich die 500, denn es war mein 500. Marathon/Ultramarathonlauf". Aber unter Läufern sei das kein Problem, man verstehe sich und einige sich dann eben. "Es ist ein Gefühl der Zusammengehörigkeit", sagt Hottas. Dieses Gefühl habe ich selbst auch auf der Strecke. Läuferinnen und Läufer, die uns überholen, nicken anerkennend, klatschen ab oder ballen die Faust und strecken einfach wortlos dabei den Daumen in den Himmel. "Das mag ich sehr am Laufen. Man lernt so viele Menschen und deren Geschichten kennen, man hilft und unterstützt sich und erlebt viele Situationen einfach intensiver". Christian Hottas weiß, wovon er spricht. Erfahrungen hat er in den Jahren genug gesammelt.

Runde drei ist gleich beendet. Eigentlich sollte das für mich die letzte gewesen sein, doch Hottas hat mich in seinen Bann gezogen. Ich denke kurz nach, signalisiere meinem Laufpartner schon, dass für mich an dieser Stelle Schluss sei, doch ich überlege es mir noch einmal, bediene mich diesmal üppig am Verpflegungsstand und gehe gemeinsam mit Hottas in meine vierte Wallumrundung.

Mittlerweile ist das Interview zu einem netten Plausch geworden. Keine lästigen Fragen, kein Nachhaken meinerseits. Es regiert das nackte Interesse füreinander, denn Hottas möchte auch wissen, was ich so mache, wie ich lebe. Natürlich gebe ich ordentlich Auskunft, allerdings unter großer Atemnot und lange nicht so flüssig wir der Hamburger das unter dieser Belastung macht. Nach drei Worten heißt es für mich immer wieder Luftholen, die Lungen mit Sauerstoff versorgen. Christian Hottas bemerkt das aber rechtzeitig, zeigt sich als fairer Sportsmann und übernimmt wieder den rhetorischen Taktstock. "Danke Christian, Danke", denke ich im stillen Kämmerlein. Ich hatte nämlich mit mir selbst zu tun, war ja auch schon bei Kilometer 8,1 angekommen, hörte aber weiter sehr gespannt zu.

Spätestens aber am Pfauengehege in Runde vier überrascht Hottas mich komplett. "Der Mann kann nicht nur laufen, der kann auch Theater spielen", denke ich, nachdem Christian mir erzählte, dass ein Laufkollege mal einen Pfau für einen Kranich gehalten hat. Hottas stellt das - wohlgemerkt in seiner achten Wallrunde - so anschaulich und inbrünstig dar, schwingt seine Arme auf und ab und hüpft "Kraniche, Kraniche, Kraniche" rufend dem Salzwedeler Tor entgegen. "Ein Wahnsinnskerl, der Hottas", denke ich.

"Ganz pünktlich schaffe ich es nicht"

Wenig später ist auch Runde vier beendet, ich funktioniere nur noch, irgendwie nicht mehr wirklich bewusst. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass es noch zwei weitere Runden gemeinsam mit Christian Hottas geben sollte. Zwei Runden, auf denen das Gespräch immer privater und intensiver werden sollte. Er erzählt mir von seiner verstorbenen polnischen Lebensgefährtin, von Erlebnissen auch außerhalb des Laufens. Ich schalte mein Aufnahmegerät aus. "Hier ist Schluss für die Öffentlichkeit, das hat er mir erzählt und in diesem Moment eben keinem anderen", manifestiert sich der Gedanke in meinem Kopf.

In meiner sechsten und letzten Runde stößt dann noch Helga Backhaus zu uns. "Das ist die laufverrückte Frau, von der ich dir vorhin erzählt habe", meinte Hottas. Ich hatte das natürlich aufgrund meines schlechten körperlichen Zustandes längst vergessen, versuche stattdessen vernünftig und gleichmäßig zu atmen und nicht aufzugeben. Wir passen uns nämlich dem schnelleren Tempo von Backhaus an, aus Rücksicht und natürlich auch, um sie nicht aus dem Rhythmus zu bringen. Aber Schlappmachen gilt nicht, für mich nicht und für Christian Hottas schon gar nicht.

Kurz vor dem Ende meiner Begleitung verabschiede ich mich von Hottas mit den besten Wünschen hinsichtlich Gesundheit und Glück im Leben, gebe ihm einen anerkennenden, dankenden, respektvollen und festen Schlag auf die Schulter. Ich denke, er wusste genau, was dieser sportliche Klapps zu bedeuten hatte. Zwei Becher Wasser, ein Stückchen Banane und schwupps ist Hottas wieder verschwunden - in seine elfte Runde. Noch acht liegen also vor ihm.

Ich brauche indes Zeit, um mich zu sammeln, um irgendwie wieder anwesend zu sein, immerhin waren das fast 14 Kilometer für mich mit dem Aufnahmegerät in der Hand, vollgepackt mit interessanten Informationen. Mein Puls lag gefühlt bei 180. Kurz vor unserem Abschied hat mir Hottas seinen verraten. "125. Aber nur, weil ich soviel erzählt habe", sagte er locker.

Gute zweieinhalb Stunden später geht es mir wieder besser, und ich finde mich im Zielbereich ein. Christian ist auf seiner letzten Runde, und irgendwie habe ich das Bedürfnis, dabei sein zu müssen, wenn er den Zielstrich überquert, denn es war nicht nur sein, sondern unser Lauf. Dann ist es schon passiert, es geht alles ganz schnell. Hottas wird mit tosendem Beifall im Ziel empfangen, drückt auf seine Stoppuhr und lächelt zufrieden. Aber er muss sich beeilen, denn in einer halben Stunde soll ja der 24-Stunden-Lauf in Fleestedt beginnen. "Naja, ganz pünktlich schaffe ich das wohl nicht mehr", sagt er, holt sich seine Glückwünsche und die Teilnahme-Urkunde ab und macht sich alsbald auf den Weg.

Zwei Tage später habe icherfahren, dass Hottas natürlich etwas zu spät in Fleestedt ankam, aber dennoch in 21:05 Stunden, die ihm noch beim Lauf verblieben, immerhin knapp 92 Kilometer hinter sich brachte. Und ich frage mich, wie ein Mensch so etwas überhaupt alles durchstehen kann? Wie man so etwas verarbeitet, körperlich und mental? Die Antwort habe ich auf seinem Blog im Internet gefunden, wo ganz groß geschrieben steht:

Jeder Lauf ist ein Geschenk