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Behindertensport Beim Leben (m)einer Niere

Sieger mit Handicap: Marcel March und Paul Hünecke aus Magdeburg gehen bei den World Transplant Games an den Start.

Von Janette Beck 26.06.2017, 01:01

Magdeburg l Die Modellathleten, die dort mit schwarzer Hose und rotem Nationaltrikot des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) forschen Schrittes zur Tür hereinkommen, sehen weder auf den ersten, noch auf den zweiten oder dritten Blick aus, als seien sie behindert. Marcel March und Paul Hünecke würden sich selbst auch nicht als solches bezeichnen – „auch wenn unsere Ausweise etwas anderes sagen“, schiebt Letzterer augenzwinkernd nach. „Ich bin zu 50 Prozent, Marcel zu 100 Prozent schwerbehindert.“

Deswegen sind die transplantierten Leistungssportler auch innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes dem Behinderten-Sportverband zugeordnet. „Allerdings hat sich auch der DLV unserer angenommen und unterstützt uns großzügig“, verweist Marcel auf die zur Verfügung gestellte Ausrüstung, die sich nicht vom Nationalmannschafts-Outfit von Harting & Co. unterscheidet.

Die 34-jährigen Magdeburger teilen nicht nur seit über 20 Jahren die Leidenschaft für die Leichtathletik, sondern seit dem 10. November 2015 auch das Handicap, jeweils nur eine Niere zu haben. Der eine „aus freien Stücken“, wie er betont, der andere „vom Schicksal bestimmt“. Beide sind seit Teenagerzeiten befreundet. Das damals geknüpfte Band verbindet sie Jahre später sogar für den Rest ihres Lebens unsichtbar miteinander: An einem Ende Paul, der Organspender – am anderen Marcel, der Organempfänger.

Aufgeteilt in eben diesen Kategorien, startet das Duo vom SC Magdeburg in dieser Woche in Malaga/Spanien bei den 23. World Transplant Games (WTG). March, der in der Altersklasse 30 bis 39 ins Rennen geht, legt den Fokus aufs Diskuswerfen (Bestleistung zu aktiven Zeiten 54,00 m/nach der Transplantation 32,00 m). Zudem startet er im Hochsprung, Kugelstoßen und Speerwerfen. Hünecke, der als Organspender in einer Klasse ohne Altersbegrenzung antritt, will es im Weitsprung (7,29 Meter/6,22 Meter) wissen und läuft zudem die 100 Meter.

Dabei teilen die gleichaltrigen Leichtathleten wie so vieles auch den Ehrgeiz: „Wenn ich ehrlich bin, würde ich gerne mit einer Medaille nach Hause kommen“, betont Hünecke. Das Maximale herausholen zu wollen, „liegt uns als ehemaligen Leistungssportlern wahrscheinlich im Blut“, begründet March die ambitionierten Ziele.

Dass sie wie zu den Zeiten am Magdeburger Sportgymnasium, als sie von 1996 bis 2002 ein Internatszimmer teilten und „wie Pat & Patachon durch dick und dünn“ gingen, überhaupt wieder Medaillen-Träume hegen, kommt beiden „wie ein kleines, großes Wunder“ vor. Erst recht, dass sie bei den deutschen Titelkämpfen vor einem Monat sogar auf dem Siegertreppchen standen. Denn die Nierentransplantation in der Berliner Charité ist erst gut anderthalb Jahre her.

Viel ist passiert – davor und nachdem Paul Hünecke im Frühjahr 2015 als Organspender für seinen Freund auf den Plan rückte, weil dessen Mutter Ramona als auch Ehefrau Janin eine Spende aus „medizinischen Gründen“ verwehrt worden war. Und obwohl die beiden Familienväter fest davon überzeugt waren: „Wir packen das, alles wird gut“, habe einiges „Kratzer auf der Seele“ hinterlassen, gesteht March. Der tiefste Kratzer sei einen Tag nach der Transplantation entstanden, als die gespendete Niere Abstoßungsreaktionen zeigte und sein Leben am seidenen Faden hing. „Das waren sehr harte und emotionale Stunden, sowohl für uns als auch für unsere Familien“ erinnert sich Hünecke. Seine Angst, er könne mit einer Niere deutlich weniger leistungsfähig sein wie zuvor mit zweien, kam ihm verglichen mit den Sorgen um den Freund auf einmal lächerlich vor. Als dieser auf die Intensivstation gebracht werden musste, reichte ein Blick, um sich zu verständigen: „Beim Leben (m)einer Niere: Kämpfe!“ Zehn Tage später war der Kampf gewonnen. March konnte die ITS verlassen – es war der Tag, an dem er und sein Lebensretter sich wie Sieger fühlten.

Während der gemeinsamen Reha im Dezember 2015 sorgte ein in der Klinik ausgelegter Flyer letztlich für die zündende Idee: „Bis dahin hatten wir von den World Transplant Games noch nie etwas gehört. Wir hatten beide den gleichen Gedanken: Das nehmen wir in Angriff!“, blickt March zurück.

Gestern Abend nun, nur eineinhalb Jahre später, standen die Freunde mit ihren „nierenverwandten“ Familien bei der Eröffnungsfeier der 23. World Transplant Games in Malaga. Und sie mussten sich gegenseitig zwicken, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumen ...