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Leichtathletik Spitzenathlet Walter Becker im Fokus

Diesmal geht es in den historischen Stendaler Sportgeschichten um den ersten Stendaler Spitzen-Leichtathleten.

Von Jörg Hosang 02.06.2020, 03:00

Stendal l Bei der Recherche zu dem ehemaligen „Multi-Sportler“ und Stendaler Johann Puchert bin ich wieder auf diesen Stendaler Leichtathleten gestoßen.

Es handelt sich um Walter Becker. Er war Mitglied des Stendaler Turnvereins (TV) Friesen. Der TV Friesen wurde 1893 als II. Abteilung des Männer-Turn-Vereins Stendal v. 1861 gegründet und beschrieb sich selbst als Turnverein der Kaufleute und Beamten, was sich aber nach dem 1. Weltkrieg änderte und sich der Verein auch für andere Bürger öffnete. Schon der leider vor kurzem verstorbene Hans Engel, dass damals letzte noch lebende Mitglied des TV Friesen, erzählte mir von diesem Stendaler Spitzensportler seines damaligen Vereins.

Vorweg sind noch einige Erklärungen notwendig. Ich fasse mich hier kurz, weil es sonst den Rahmen sprengen würde. Der TV Friesen gehörte als Turnverein dem Verband „Deutsche Turnerschaft“ (DT) an, dem Dachverband der bürgerlichen Turnvereine, der bereits 1868 gegründet wurde. Übrigens, die Arbeiter-Turnvereine gehörten nicht dazu. Diese waren der DT zu suspekt. Darum wurde nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 eigene Arbeiter-Sportvereine gegründet, die sich im „Arbeiter-Turner-Bund“ (ATB) organisierten.

Über die Arbeiter-Sportvereine in Stendal mache ich später noch eine Folge. Neben der DT organisierten sich andere Sportarten, voran der Fußball, in ihren eigenen Verbänden. Als Beispiele sind hier die deutsche Sportbehörde für Leichtathletik (DSB) und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) genannt, die sich ab 1908 in dem Verbund „Deutscher Sportbund“ zusammenfanden. Diese Verbände schlossen einen separaten Vertrag mit der Deutschen Turnerschaft (DT), der Zuständigkeiten zur Abhaltung Deutscher Meisterschaften mit der Teilnahmemöglichkeit von Mitgliedern der DT sowie die Führung der Rekordlisten regelte. Die DT kündigte 1921 diesen Vertrag, so dass dann getrennte Meisterschaften durchgeführt und getrennte Rekordlisten geführt wurden.

Warum erzähle ich das? Weil wir nun ins Jahr 1927 gehen. Es gab also eine Trennung von Meisterschaften und Rekordlisten. Der TV Friesen Stendal nahm natürlich an den Deutschen Meisterschaften (DM) der DT teil. So auch der hier vorgestellte Walter Becker. Schon vor den DM machte W. Becker bei verschiedenen hochrangigen Leichtathletikveranstaltungen auf sich aufmerksam und duellierte sich dabei mit anderen hochrangigen deutschen Leichtathleten, auch aus dem „Sportlager“. Als erstes Beispiel sind hier die volkstümlichen Wettkämpfe (so wurden bei den Turnern seit Beginn die leichtathletischen Disziplinen bezeichnet) Mitte Juli in Cöthen genannt, bei denen das dortige neue Stadion eingeweiht wurde. Nach langer Zeit trafen hier wieder einmal Turner und Sportler aufeinander.

 „Der Altmärker“ schreibt dazu: „Von beiden Verbänden war für alle Wettbewerbe erste Klasse aus allen Städten Mitteldeutschlands zur Stelle. Im 100-Meter-Lauf hatten die Sportler ihre Hauptwaffe in Wege, V.f.B. Leipzig, der erst kürzlich bei den Mitteldeutschen Meisterschaften die 100 Meter in 10,6 Sek. bewältigt hatte, dann Simon und Hempel, Spielvereinigung 1898 Dessau; die Turner in Gerke (MTV Braunschweig) und Becker (TV Friesen Stendal).“ Im Endlauf trafen dann Gerke, Simon, Wagner (alle Dessau), Köhler (Bernburg) und Becker (Stendal) aufeinander. Die Zeitung schreibt weiter: „Mit größter Spannung erwarteten die dicht gedrängt stehenden 4000 Zuschauer den Beginn des Laufes. Nach einem Fehlstart und einem Versager (Anm.: der Startpistole) begann bei dem dritten Start der Lauf. … Becker schob sich sofort vor und konnte unter tosendem Beifall der Zuschauer in der Zeit von 11,1 Sek. als erster durch das Ziel gehen.; 2. Gerke 11,1 Sek., 3. Simon 11,2 Sekunden.

Die Zeit ist auf der frischen und durch den dauernden Regen aufgeweichten Bahn als ganz vorzüglich anzusprechen.“ Aber Walter Becker war nicht nur im Sprint erfolgreich. Er siegte bei diesen Wettkämpfen auch im Kugelstoßen mit 11,61 Meter (der Zweitplatzierte erreichte nur 11,09 Meter). Eine Kombination der Disziplinen die man heutzutage bei den Spitzenathleten nicht mehr antrifft. Die Mehrkämpfer natürlich ausgenommen. Außerdem erreichte Becker im Dreikampf (100m, Kugelstoßen, Weitsprung) noch den 2. Platz hinter Gerke. Der TV Friesen Stendal war bei diesen Wettkämpfen noch in der Schwedenstaffel (Anm.: eine Sprintstaffel über 400, 300, 200 und 100 Meter) dabei. Die Stendaler Friesen-Staffel bildeten Hahn, Schilling, Becker und Puchert. Becker konnte mit 10 Meter Vorsprung den Staffelstab an Puchert für die letzten 100 Meter übergeben, der dann in der guten Zeit von 2:11,5 Min. als Erster das Ziel erreichte. Gute 8 Meter später folgte die Staffel von Viktoria 96 Magdeburg als Zweite. Dieser Sieg in der Staffel zeigt, dass der TV Friesen Stendal damals auch in der Breite ganz gut aufgestellt war.

Vor den Deutschen Meisterschaften wurde Walter Becker noch zu den reichsoffenen Wettkämpfen der Berliner Turnerschaft auf dem Sportplatz Baumschulenweg eingeladen. 400 Turner und Sportler aus ganz Deutschland hatten gemeldet. Dabei traf Becker in seiner Spezialdisziplin 100 Meter u.a. auf zwei Kreismeister (Anm.: Deutschland war in sogenannte Turn- oder Sportkreise unterteilt. Die Stendaler waren im Turnkreis 3c angegliedert, das in etwa grob dem heutigen Sachsen-Anhalt entspricht.) Die beiden Kreismeister waren Gärtner (33 Brandenburg) und Schlensog (2 Schlesien). Gärtner hatte Becker zuvor in Hannover knapp geschlagen. Auch im Kugelstoßen war Becker wieder einer der Favoriten. Auch aus diesem Wettkampf konnte Walter Becker, wieder in 11,1 Sek., vor Barlowitz, Gärtner (beide Berlin) und Schlierog (Breslau) siegreich hervorgehen. Die Zeit ist auch hier als sehr gut zu bezeichnen, da laut Zeitung ein „scharfer Gegenwind“ herrschte. Im Kugelstoßen wurde er mit 11,68 Meter Dritter, wobei ein 12-Meter-Stoß wegen Übertretens leider nicht gewertet werden konnte.

Drei Wochen später traf Becker dann bei den Deutschen Meisterschaften der Deutschen Turnerschaft in Berlin auf alle deutschen Spitzenathleten. Die „Altmärkische Tageszeitung“ schreibt u.a. zu den Deutschen Meisterschaften: „Verschiedene bisherige Rekorde mußten ihr Leben lassen. Die Liste der Höchstleistungen wurde von Grund auf revidiert. Es waren aber nicht nur die Spitzenleistungen, die in die Augen sprangen; auch der allgemeine Durchschnitt hat sich seit dem Vorjahre bedeutend verbessert. Kurzum, die Meisterschaften haben das gehalten, was man sich von ihnen versprach.“ Über den 100 Meter Lauf hieß es nur kurz: „Lammers, der am Sonnabend die 200-Meter-Meisterschaft gewann, holte sich gestern auch die 100 Meter, und zwar in der glänzenden Zeit von 10,5 Sekunden vor Becker-Stendal.“

Becker erzielte bei seinem 2. Platz über die 100 Meter eine ausgezeichnete Zeit von 10,6 Sekunden. Die 10,5 Sek. von Lammers bedeuteten einen neuen 100-Meter-Rekord bei den Turnern. Becker stellte mit seinen 10,6 Sek. den alten Rekord ein. Wie gut Beckers Leistung war, sieht man auch an den damaligen deutschen Rekord (Anm.: der Sportler), der von 1926 bis 1932 mit 10,4 Sek. durch Helmut Körnig (SCC Berlin) gehalten wurde. Zwar kann man Wettkämpfe zu verschiedenen Zeitpunkten nicht direkt vergleichen (Bahnbeschaffenheit, Wind) , aber es sei darauf hingewiesen, dass bei den DM der Sportler in Berlin einen Monat zuvor jener H. Körnig in „nur“ 10,8 Sek. die 100m gewann.

Und Becker, wir zuvor beschrieben, bei starkem Gegenwind bzw. aufgeweichter Bahn immerhin 11,1 Sek. erreichte. Der 2. Platz über 100 Meter war aber nicht das einzige herausragende Resultat von Becker bei diesen Deutschen Meisterschaften der Turner. Auch über die 200 Meter wurde Becker in 22,2 Sek. hervorragender Zweiter, wieder hinter Lammers (22,0). Ein Jahr später 1928, wieder bei den DM der DT, wiederholte Walter Becker seine ausgezeichnete Leistung und belegte über die 200 Meter erneut einen 2. Platz, diesmal hinter Lohmann (Barmer TV 1846).

Um die weitere Leichtathletikkarriere Beckers zu erkunden, sind noch weitere zeitaufwendige Recherchen notwendig. Bei den DM der Turner taucht er aber nicht mehr in den Ergebnislisten unter den Medaillengewinnern auf. Ein weiterer sehr guter Leichtathlet vom TV Friesen Stendal war noch Otto Hanebuth. Dieser war Anfang der 1930er der beste Stendaler und belegte u.a. bei den DM der Turner 1933 im Speerwerfen (59,72m) den 3. Platz. Auch hier sind noch weitere Recherchen notwendig.

Die Leistungen Walter Beckers waren aber nur der Anfang von etlichen leichtathletischen Spitzensportlern aus Stendal. Als Beispiele seien hier einige Sportler genannt. Die Liste kann natürlich nicht vollständig sein. Als Erstes der in den 1950er Jahren sehr erfolgreiche und für den Stendaler Sport sehr verdienstvolle Gerhard („Lampe“) Heine. G. Heine war Mitglied der Leichtathletik-Nationalmannschaft der DDR. Seine goldene Medaille über die 4x400m vom Leichtathletik Länderkampf DDR - Bulgarien, in Sofia 1952, kann man im Stendaler Sportmuseum bewundern. Ein weiteres Beispiel ist der 1940 in Stendal geborene Hans-Jürgen Rückborn, der in den 1960er Jahren ein sehr erfolgreicher Dreispringer war. Seinen größten Erfolg erzielte Rückborn bei den Leichtathletik-Europameisterschaften 1966 in Budapest. Dort errang er mit nur einem Zentimeter Rückstand auf den Sieger die Silbermedaille.

Aus der neusten Zeit sei noch Thomas Barthel, wie W. Becker ein Sprinter, erwähnt, der nach sehr guten Leistungen im Nachwuchsbereich früh zum SC Magdeburg wechselte. Dort hatte er als Junior etliche sehr gute Resultate zu verzeichnen. So gewann Barthel in der U20 bei den Europameisterschaften 2017 Staffelgold. Seine schnellste erreichte Zeit über 100 Meter lag bei guten 10,32 Sekunden. Leider hat Th. Barthel seine Karriere voriges Jahr beendet. Und zum Schluss seien natürlich nicht die zahlreichen Erfolge der Stendaler Senioren-Leichtathleten des Stendaler LV ‚92 vergessen. Zahlreiche Siege und Medaillengewinne bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie Deutschen Meisterschaften können die Sportlerinnen und Sportler der Trainingsgruppe von Siggi Wille vorweisen. Hier seien als Beispiele Hans Hoffmann, Otto Nawrocki, Kerstin Müller, Andrea Nebelung, Evelin Huth und Sigrun Lazik, die über viele Jahre international erfolgreich waren, genannt.