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Digel: Anti-Doping-Kampf der IAAF gescheitert

Ein bisschen resigniert hat er schon, der forsche Funktionär. Denn die Leichtathletik war auch ein Stück seines Lebens. Nun zieht Helmut Digel Bilanz - ausgerechnet nach einem Doping-Skandaljahr. Der Sport müsse künftig besser präsentiert werden: kürzer und spannender.

Von Interview: Ralf Jarkowski, dpa 27.12.2015, 09:31

Berlin (dpa) - Seit August hat Helmut Digel offiziell zwar keine Funktion in der Leichtathletik mehr. Doch sein Sport lässt ihn nicht los. Er verfolgt das Geschehen nach wie vor - und mischt sich weiter ein.

Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht der Tübinger über Doping und Russland, über Sebastian Coe und Usain Bolt.

Herr Professor, über zwei Jahrzehnte lang haben Sie sich für die Leichtathletik engagiert. Sind Sie am Ende des Skandaljahrs 2015 froh, dass Sie jetzt Privatier sind und seit dem Sommer kein offizielles Amt mehr haben?

Helmut Digel: Ja und nein. Einmal sind natürlich 20 Jahre ehrenamtliches Engagement in der nationalen und Welt-Leichtathletik genug. Das muss auch mal ein Ende haben. Aber es gibt natürlich auch Entzugserscheinungen. Und das merke ich jeden Morgen, wenn ich im Computer gleich nach Meldungen von der Leichtathletik suche. Ein Comeback als Funktionär wird es aber sicher nicht geben.

Was bleibt von der Leichtathletik - was wird aus der Sportart? Sind Sie frustriert, haben Sie resigniert?

Digel:Sie bleibt für mich eine äußerst interessante Sportart. Und ich habe sie auch wirklich lieben gelernt. Aber der Ausgangspunkt für mein Engagement war ja das Dopingproblem - deshalb wurde ich in diese Organisation als Außenseiter hineingeholt. Bezogen auf das Dopingproblem - das muss ich im Nachhinein sagen - konnte man national und international aber nur kleine Erfolge erreichen. Und aus der Sicht von heute muss man bilanzieren, dass der Anti-Doping-Kampf, wie ihn die IAAF bislang organisiert hat, gescheitert ist.

Kaum einer glaubt, dass Sie rein gar nichts von den Vorgängen im Weltverband gewusst haben, von Korruption, Doping, Seilschaften bis in höchste Ämter. Ex-Präsident Lamine Diack ist angeklagt. Sie haben als IAAF-Vize und im Council jahrelang eng an seiner Seite gearbeitet.

Digel:In der Regel hält ein Betrüger seinen Betrug bewusst geheim. Ich kenne niemand aus unserem Council, der Wissen von diesen Betrügereien unserer hauptamtlichen Mitarbeiter und - wie ja nun auch vermutet wird - unseres Präsidenten gehabt hat. Es ist für uns nach wie vor unvorstellbar, dass unser Präsident an dieser Sache beteiligt ist. Das ist ja der Gipfel des Betruges überhaupt: Denn auf diese Weise wird das ganze Anti-Doping-System ad absurdum geführt. Das ist für mich unbegreiflich - aber offensichtlich kann Geldgier einiges verändern. Bei Lamine Diack bedarf es nun endlich eines juristischen Verfahrens, um zu sehen: Ist er tatsächlich schuldig?

Auch Diacks Nachfolger Sebastian Coe ist umstritten. Enthüllungen von Dopingfahndern nannte er eine Kriegserklärung. Wie sehen Sie seine Rolle als Reformer?

Digel:Seine Wortwahl mit dem Begriff der Kriegserklärung war sicher ein Fehler. Ich habe mich auch gewundert, dass er sich gegen ein Anti-Doping-Gesetz ausspricht. Gerade angesichts der Skandale in der Welt-Leichtathletik müsste man eigentlich erkennen, wie hilfreich und wichtig die staatlichen Ermittlungen sind. Ansonsten gibt er sich große Mühe. Er ist sehr fleißig und versucht, Änderungen herbeizuführen, die die Leichtathletik dringend benötigt. Er hat richtige und wichtige Vorschläge gemacht. Aber jetzt muss Coe zeigen, dass er die Veränderungen auch wirklich durchsetzt. Und da ist bis jetzt zu wenig geschehen.

Russlands Leichtathletik steht nun im Fokus, andere Verbände sind noch im Schatten. Aufgeräumt wird wohl in Kenia, Italien. Auch in Jamaika? Was droht da noch?

Digel:Jeder weiß ja, dass neben Russland noch weitere Nationen am Pranger stehen. Und da sind jetzt die WADA und die Ethikkommission der IAAF gefordert. Es muss auch transparent aufgezeigt werden, dass man die Fälle nicht unter den Tisch kehren möchte. Es gibt ja schon lange ein großes Dopingproblem in der türkischen Leichtathletik. Man weiß auch um die Dopingprobleme in der Ukraine und in Weißrussland. Kenia ist ein altes Problem und bedarf endlich einer systematischen Untersuchung. Ich sehe das Problem in Russland vor allem so: Von außen ist es nur schwer zu lösen, und innen scheint es im Moment noch keine ausreichende Bereitschaft dafür zu geben. Hehre Worte von Herrn Putin und Mutko reichen nicht.

Gefordert werden immer wieder intelligente Dopingkontrollen - aber reichen diese heute überhaupt aus? Und werden Top-Athleten nicht viel zu selten getestet?

Digel:Gewiss brauchen wir noch klügere Kontrollen. Eine große Zahl von Athleten wird heute auch ausreichend getestet. Das größte Problem besteht meiner Meinung jedoch darin, dass die Kontrollen von den Betrügern unterlaufen werden können und auch gut kontrollierte Athleten durchaus Betrüger sein können. Hier brauchen wir die weitere Unterstützung der Labors. Von ihnen müssen noch mehr Längsschnitt-Daten gesammelt werden. Wir brauchen aber auch die Investigation durch polizeiliches Fachpersonal in der Grauzone des Betruges - dass man den Tätern wirklich auf die Schliche kommt.

Richtig, aber Jamaika ist eine ferne Insel...

Digel:... und ein sehr kleines Entwicklungsland. Dennoch: Ein Usain Bolt beispielsweise, der hat vergleichsweise genau so viele Dopingkontrollen im Jahr wie die deutschen Sprinter aufzuweisen. Ihm etwas anderes zu unterstellen, wäre einfach nicht berechtigt und teilweise sogar bösartig. Aber das Problem ist ja nicht die Zahl der Kontrollen, sondern dass Athleten mit ihren medizinischen Stäben in der Lage sind, diese zu unterlaufen. Und dass sie teilweise mit Substanzen manipulieren, die in den Tests gar nicht nachweisbar sind. Das ist unsere zentrale Herausforderung.

Wie kann die Leichtathletik als nur noch drittklassige Sportart hinter dem übermächtigen Fußball und dem Funsport ihr Image wieder aufpolieren? Kann man junge Leute heute überhaupt noch für die Kernsportart begeistern?

Digel:Ein 100-Meter-Finale bei Olympischen Spielen - da kann sich kein Fußballspiel mit messen. Keine andere Sportart kann eine vergleichbare Dramatik erzeugen. Das Problem der Leichtathletik ist, dass sie in ihrer Bedeutung selbst in den letzten Jahren sehr viel an Substanz verloren und auch Zuschauer eingebüßt hat. Das hängt teilweise mit der Bedeutung des Fußballs zusammen, insbesondere was die Präsenz im Fernsehen betrifft. Die Leichtathletik hat einfach ihre notwendige Modernisierung nicht geschafft. Darum kann sie auch die jungen Generationen nicht für sich gewinnen. Wir müssen an ihre Präsentation heran, an die Inszenierung, auch an die Dauer der Wettkämpfe. Also: kürzer und spannender.

Brauchen wir eine Biathlonisierung der Leichtathletik?

Digel:Man kann vom Biathlon viel lernen. Ich hoffe nur, dass die Leichtathletik begreift, dass es sich lohnt, sich auch mit anderen Sportarten auszutauschen, um sich zu modernisieren. Und nicht zu glauben: Wir wissen schon alles und machen alles besser.

Was macht Helmut Digel künftig: als Pensionär, als Wissenschaftler - und als ewiger Leichtathlet? Gibt es ein Comeback?

Digel:Ich treibe auf jeden Fall sehr viel mehr aktiv Sport: Alpin-Skifahren, Langlaufen. Wo ich wohne, kann man im Sommer sehr viel Fahrrad fahren. Man hat die Seen, ich gehe zum Schwimmen. Ich werde auch weiter wissenschaftlich arbeiten und publizieren. Vor allem China bleibt mein Thema, dort halte ich immer noch Vorlesungen, an sechs Universitäten. Zweimal im Jahr bin ich in China.

ZUR PERSON: Helmut Digel ist einer der renommiertesten Sportwissenschaftler in Deutschland. Der 71-Jährige aus Tübingen gehörte von 2007 bis August 2015 dem Council des Leichtathletik- Weltverbandes IAAF an. Von 1993 bis 2001 war der frühere Handballer Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, von 1993 bis 2002 auch NOK-Vizepräsident. Als Pensionär lebt er jetzt am Chiemsee.