"Das Thema ist angstbesetzt" - In Sachen Sexualität herrscht bei Eltern behinderter Kinder und in der Gesellschaft nach wie vor Unsicherheit
Die Fachautorin Ilse Achilles, selbst Mutter eines Sohnes mit geistiger Behinderung, spricht im Interview offen über zweierlei Maß, Sexualbegleiter, Angst vor Missbrauch und Elternschaft.
Volksstimme: Warum ist das Thema Sexualität für Eltern und Betreuer nach wie vor schwierig?
Ilse Achilles: Das Thema ist angstbesetzt, vor allem für Eltern. Sie fürchten sich vor auffälligem Verhalten ihrer Kinder in der Öffentlichkeit, vor einem sexuellen Missbrauch und natürlich auch vor einer Schwangerschaft. Diese Ängste sind berechtigt. Die meisten behinderten Kinder sind offen, arglos, zutraulich. Weil sie sich oft verbal nicht gut ausdrücken können, zeigen sie ihre Gefühle durch Gesten und Handlungen. Dadurch wirken sie distanzlos, manchmal auch schamlos.
Volksstimme: Was bedeutet das konkret?
Achilles: Selbstbefriedigung ist das erste große Problem, mit dem sich Eltern behinderter Kinder auseinandersetzen müssen. Dass es passiert, ist normal. Auch nichtbehinderte Kinder fummeln, nur machen sie es heimlich – nicht wie behinderte je nach Lust und Laune, mitten im Kaufhaus oder im Wohnzimmer, wenn die ganze Familie versammelt ist. Selbstbefriedigung zu verbieten, ist sinnlos. Aber man muss es steuern. Ganz klare Grenzen setzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit: In deinem Zimmer ist es erlaubt, in der Schule oder der Werkstatt ist es verboten.
Volksstimme: Lösen sich sexuelle Tabugrenzen in dem Maße, in dem sie bei nichtbehinderten Menschen schwinden, auch bei Menschen mit Behinderung langsam auf?
Achilles: Die Gesellschaft begegnet behinderten Menschen generell freundlicher, bei auffälligem Verhalten wie Küssen in der Öffentlichkeit hört dieses Verständnis aber sofort auf. Was bei nicht-behinderten Menschen durchaus akzeptiert wird, gilt für behinderte noch lange nicht.
Volksstimme: Inwiefern herrscht vor allem für geistig behinderte Menschen ein hoher Leidensdruck?
Achilles: Sie spüren, dass sie ausgegrenzt sind. Ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. In Elternhaus, Schule, Wohnheim, Werkstatt sind sie ständig unter Beobachtung. Viele von ihnen wünschen sich nicht-behinderte Partner. Die aber finden sie nicht.
Volksstimme: Haben Sie Verständnis dafür, wenn Prostituierte in den Heimen geduldet werden?
Achilles: Klassische Prostituierte würde ich da nicht gern sehen. Sexualbegleiterinnen, die geschult sind und sich mit Behinderungen und deren möglichen Komplikationen beim Sex auskennen, würde ich begrüßen. Sexualbegleiter für Frauen natürlich auch, aber da sind seriöse nur sehr schwer zu finden.
Volksstimme: Wo finden Eltern, etwa während der Pubertät ihrer Kinder, Hilfe bei aufkommenden Fragen und Problemen?
Achilles: Alle großen Träger wie Lebenshilfe oder Caritas haben Elternberatungsstellen. Man kann sich aber auch an städtische Erziehungsberatungsstellen und an die Jugendhilfe wenden. Als ich vor 25 Jahren von den Pubertätsproblemen meines Sohnes überrascht wurde, habe ich recherchiert und wenig gefunden. Seitdem ist viele gute Literatur zu dem Thema erschienen. Und es gibt wunderbare Bücher, Bilderbücher und Filme zur Aufklärung.
Volksstimme: Halten Sie Menschen mit Behinderungen für gefährdeter gegenüber sexuellem Missbrauch?
Achilles: Ja, weil die Täter davon ausgehen, dass die Opfer nicht darüber reden können oder ihnen nicht geglaubt wird. Täter stammen fast immer aus dem näheren Umfeld der Opfer.
Volksstimme: Wie können Eltern ihre Kinder schützen?
Achilles: Nicht, indem wir sie einsperren. Und auch nicht, indem wir sie auf Freizeiten nicht mitfahren lassen aus Angst, es könnte dort zu sexuellen Kontakten kommen. Das Einzige, was schützen kann, ist Aufklärung. Denn die Erfahrung zeigt: Unaufgeklärte, überbehütete Kinder sind besonders gefährdet.
Volksstimme: Sie sprachen anfangs von der Angst der Eltern vor einer Schwangerschaft.
Achilles: Eltern fürchten, nach der Verantwortung für ihr nun erwachsenes Kind nun auch noch für ein behindertes Enkelkind da sein zu müssen. Da allerdings kann im Großen und Ganzen Entwarnung gegeben werden: Nur etwa 7 Prozent der Behinderungen sind angeboren. Die meisten entstehen durch Krankheit oder Unfall.
Volksstimme: Gibt es eine Diskussion darüber, ob geistig behinderte Menschen Kinder haben sollten?
Achilles: Die gibt es. Viele Eltern wollen die Sterilisation ihrer Töchter. Die ist seit 1992 aber nur unter strikten Auflagen möglich. Laut Grundgesetz hat jeder Mensch das
Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dazu gehört zweifellos auch das Recht auf Sexualität und Elternschaft. Viele Leute aus der Behindertenarbeit, mit denen ich gesprochen habe, lehnten die Elternschaft für geistig behinderte Menschen ab.
Volksstimme: Warum?
Achilles: Es hieß, die Erfahrung habe gezeigt, dass manche geistig behinderte Mütter ihr Kind nicht selbst versorgen können, dass es oft zu großem Kummer kommt, wenn das Kind zur Pflege oder Adoption freigegeben werden muss. Heute sind viele Fachleute aus Erfahrung klüger: Es hat sich herausgestellt, dass die Kinder – zumindest solange sie noch klein sind – sehr gut von Müttern und Vätern, die geistig behindert sind, betreut und gefördert werden.
Volksstimme: Wie stehen Sie persönlich zu dieser Frage?
Achilles: Für viele behinderte Frauen ist ein Kind ein Beweis der Normalität: Das ist mein Kind, es gehört zu mir, es braucht mich, ich bin wichtig. Der Wunsch nach einem Kind ist also eigentlich ein Wunsch nach Anerkennung. Ich plädiere dafür, zu versuchen, die Frau zu überzeugen, dass ein Leben auch ohne Kind lebenswert sein kann. Aufklärung ist der einzige Weg, einer behinderten Frau klar zumachen, dass sie mit einem Kind eventuell überfordert wäre.