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Nachfolger gesucht Die Sielaffs in Kemberg: ein bisschen verrückt

Torsten Sielaff betreibt mit seiner Frau Simone den „Kulturort Gassmühle Rotta“ in Kemberg im Landkreis Wittenberg. Jetzt sucht er einen Nachfolger.

Von Mathias Schulze 17.12.2024, 11:12
Hereinspaziert! Torsten und Simone Sielaff betreiben den Kulturort Gassmühle Rotta im Landkreis Wittenberg.
Hereinspaziert! Torsten und Simone Sielaff betreiben den Kulturort Gassmühle Rotta im Landkreis Wittenberg. (Foto: Torsten Sielaff)

Wittenberg/MZ - „Torstens Auftreten in der Öffentlichkeit und seine Meinung in politischen Diskussionen zeigen, dass er nicht in der Lage war, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge richtig zu werten.“ Als Torsten Sielaff, Jahrgang 1967 und geboren im thüringischen Mühlhausen, sich für eine Krankenpfleger-Ausbildung in der DDR interessierte, schrieb der Klassenlehrer diese vernichtenden Sätze ins Zeugnis des Schülers der neunten Klasse. Sielaff kann sie noch heute Wort für Wort wiedergeben.

Unter Beobachtung

Eine von vielen Repressionen, der Zugang zur Erweiterten Oberschule (EOS) war bereits verbaut, die Eltern – auch beide Krankenpfleger – konnten anders als manche andere Akademikerfamilien keinen Einspruch mehr erheben. Sielaff erzählt von Observationen vor dem eigenen Wohnhaus, von Verhören bei der Kriminalpolizei oder von Ärzten zu DDR-Zeiten, die eine klaffende Platzwunde am Kopf nicht behandeln wollten, weil er einen „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnäher auf der Jacke trug. Willkommen im Arbeiter- und Bauernstaat!

Was war passiert? Was hatte Sielaff, der heute zusammen mit seiner Frau Simone Sielaff den „Kulturort Gassmühle Rotta“ betreibt und um die 70 Kulturveranstaltungen pro Jahr anbietet, verbrochen? Aus einem evangelischen Elternhaus stammend, hatte er sich der Friedensbewegung der DDR angeschlossen, der Vater hatte drei Brüder im Westen. Das reichte, um ins Visier der Staatssicherheit zu geraten.

Von der Stasi unterwandert

„Unsere Junge Gemeinde war von der Stasi unterwandert, aber ich hatte eine gute Menschenkenntnis, durfte später in diesem amüsanten Konstrukt - in meiner Stasi-Akte – lesen, dass es nie gelungen sei, einen IM an den S. heranzubringen“, erzählt Sielaff mit Stolz. In Wittenberg, im evangelischen Krankenhaus „Paul-Gerhardt-Stift“, das laut Sielaff „eine Insel im roten Meer war“, durfte er doch noch seine Ausbildung zum Krankenpfleger absolvieren.

1987 folgte der Ausreiseantrag, 1988 ging es mit seiner damaligen Frau und Tochter in den Westen, Sielaff arbeitete im Ruhrpott auf einer chirurgischen Wachstation. Ist er dort angekommen? „Nein! Allein die Gottesdienste! Während wir in der Kirche in der DDR grundsätzliche Fragen stellten, ging es im Westen hauptsächlich um äußerliche Kriterien. Sofort nach der Grenzöffnung wollte ich in den Osten zurück“, sagt Sielaff.

Die Rückkehr gelang 1994. In Uthausen, das heute ein Stadtteil von Kemberg im Landkreis Wittenberg ist, wurde ein Haus gebaut, in der psychiatrische Abteilung in Wittenberg fand Sielaff Arbeit. Und immer und immer wieder fiel sein Blick auf die stillgelegte Gassmühle in Kemberg im Ortsteil Rotta. Das zwei Hektar große Mühlengelände, dem ein großer Mühlteich zugeordnet ist, ging Sielaff nicht mehr aus dem Kopf. Als er seiner neuen Partnerin 2010 vorschlug, den idyllischen Ort käuflich zu erwerben und in die Ruine einzuziehen, war die erste Reaktion eindeutig: Du bist verrückt!

Ein bisschen verrückt

„Aber manchmal muss man verrückt sein“, ergänzt Sielaff schelmisch. 2011 wurde die stillgelegte Mühle gekauft: Sanierungen, der Einzug und die Schaffung von Ferienwohnungen folgten. Zudem gab es da diesen ungenutzten Raum für bis zu 60 Personen. Das Leben und die Zufälle: Im familiären Kreis entdeckte Sielaff die heilende Kraft der Kunst, der Musik. Und als Frank Oberhof, der mit seiner Leipziger Kulturinitiative „Die Liedertour“ Musiker in die ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts vermittelt, die Mühle sah, begann eine neue Geschichte.

Ab Oktober 2019 wurde in Rotta regelmäßig musiziert. Heute bekommt Sielaff, der keinen Eintritt verlangt, sondern die Jaucheschöpfkelle rumgehen lässt, mehr Künstleranfragen, als er realisieren kann. Musiker wie Dirk Zöllner oder Max Prosa schätzen die Kulturscheune auch als mehrtägigen Arbeitsort, das Publikum kommt aus Rotta, Kemberg, Dessau-Roßlau, Wittenberg oder Bad Düben. „Ich habe nach der Wiedervereinigung erlebt, dass die Menschen - ähnlich wie damals im Ruhrpott - sich mehr ins Private zurückgezogen haben. Man wollte lieber allein vor der Schrankwand sitzen, das Miteinander, das ich aus DDR-Zeiten kannte, nahm deutlich ab“, berichtet Sielaff, der 2020 seine Arbeit als Krankenpfleger an den Nagel hing.

In neun Jahren Rente

Die Kulturscheune ist ein Ort, um dem entgegenzuwirken. Sielaff drückt es so aus: „Das Miteinander, die menschlichen Begegnungen, machen das Leben erst lebenswert. Die Einsamkeit aufzulösen, damit letztlich die Demokratie zu stärken, ist mein erklärtes Anliegen.“ Pläne, Ziele? Sielaff entschieden: „In gut neun Jahren möchte ich in Rente gehen. Würden wir einen jüngeren Käufer finden, der das ganze Areal samt Wohnmöglichkeiten und kultureller Gestaltung übernimmt, würde mich das sehr stolz machen.“