Ein Stück vom Glück
Es ist nicht immer leicht, Mutter einer quirligen Fünfjährigen zu
sein. Nicht leicht, wenn die Kleine epileptische Anfälle hat und geistig behindert ist. Und vor allem nicht leicht, wenn man als Mutter selbst Unterstützung braucht. Aber Mandy Marwitz emfindet ihre Tochter als allergrößtes Glück.
"Am 8. Oktober 2007 um 5.44 Uhr war sie da: 2720 Gramm schwer, 47 Zentimeter lang." Wenn es um ihre Tochter Geraldine geht, kennt Mandy Marwitz alle Fakten aus dem Effeff. Auch jene, die vielen Müttern erspart bleiben: Wie erkenne ich, ob sich ein Krampf ankündigt? Wie heißt das krampflösende Medikament? Wo liegt es immer? Und die Notarztnummer?
Mandy Marwitz ist geistig behindert und Mutter einer Fünfjährigen, die mit ihren großen, wunderschönen blauen Augen selbst Steine zerfließen lassen könnte. Die Kleine leidet unter epileptischen Anfällen, entwickelt sich nur zögerlich und in kleinen Schritten. "Geraldine lernt nicht jeden Tag ein neues Wort, sie braucht für manche Dinge Jahre", sagt Tonja Volkmann, die der Familie als Heilerziehungspflegerin rund um die Uhr mit Ratschlägen zur Seite steht (siehe Kasten "Begleitete Elternschaft"). Mandy Marwitz hört das nicht gern, aber sie versucht, es zu akzeptieren. "Als Geraldine mit kaum einem halben Jahr ihren ersten Anfall bekam, dachte ich: Oh nein." Sie kannte die Krankheit vom Vater der Kleinen, mit dem sie heute keinen Kontakt mehr hat.
Inzwischen hat sie die Angst vor den Krämpfen verloren und umsorgt die Kleine, ohne sie abzuschotten. Geraldine geht in einen integrativen Kindergarten, dort bekommt sie Ergo-, Sprach- und Physiotherapie. Morgens verlassen Mutter und Tochter gegen 7 Uhr das Haus, die eine mit dem Fahrdienst in den Kindergarten, die andere in die Werkstatt der Pfeifferschen Stiftungen. Dort baut sie unter anderem Schwangerschaftstests zusammen, "ausgerechnet das", lacht die 32-Jährige. Damals hat sie sogar zweimal solche Tests bemüht, aber erst beim Frauenarzt hat sie wirklich realisiert: Sie ist schwanger. Zweifel, ob sie das Kind will, habe sie nicht gehabt. Auch, weil ihre Eltern ihr jede Hilfe versprochen und die Entscheidung ihr überlassen haben. "Die beiden kümmern sich intensiv um Mandy und Geraldine", lobt die Sozialarbeiterin. Das sei nicht selbstverständlich. Jeden Mittwoch besucht die Mutter ihre Tochter und die Enkelin, jede zweite Woche übernachten die beiden am Wochenende bei den Eltern. "Und wenn ich mal etwas vorhabe, passt meine Mutter auf die Kleine auch gern auf", freut sich Mandy Marwitz.
In der Werkstatt kam sie schließlich auch ihrem jetzigen Freund näher, Kevin Kracau. Die beiden kannten sich seit Jahren, "und eigentlich war ausgemacht, dass wir Freunde bleiben", erzählt der 26-Jährige. Er ist selbst geistig behindert, wirkt sehr offen und herzlich, erzählt gern und lacht viel. Im August hat er sie dann doch geküsst, und immer wieder drückt er Mandy Marwitz an sich. "Wir kitzeln uns gern aus", gesteht er grinsend, und manchmal bemalen sie sich auch gegenseitig.
Das Leben sei doch sonst schon viel zu ernst, sagt Mandy Marwitz, und: "Für uns ist die Behinderung normal. Aber wir wollen auch anerkannt werden, so, wie wir sind. Die Menschen haben so viele Vorurteile." Manchmal beneide sie die Muttis, die nicht-behinderte Kinder haben, murmelt die Magdeburgerin, weil deren
Kinder nicht vor der Aufgabe stünden, eine Entwicklungsvorsprung aufzuholen. "Ich weiß, dass meine Geraldine das nicht schaffen kann, aber ich tue alles für sie und würde sie nie hergeben."
Schon jetzt sorgt sie sich, dass Geraldine in der Schule gehänselt wird, sie kennt die bösen Zungen von Kindern aus eigener Erfahrung. Aber Mandy Marwitz tröstet der Gedanke, dass sie genau wegen dieser Erfahrungen ihrer Tochter eine gute Mutter sein kann.
Kevin Kracau genießt die Zeit mit dem Kind, er strahlt, als er von seiner Lieblingsbeschäftigung erzählt: "Den Wagen schieben. Dann denken alle, ich wäre der Papa." Er holt Geraldine vom Kindergarten ab und bringt sie zur Therapie. Er fährt mit zu den Großeltern, die er "toll" findet. Er hängt Wäsche auf, wäscht ab, bringt den Müll raus.
Und doch: Gerade in der neuen Beziehung zwischen dem Paar zeigt sich die besondere Lebenssituation einer begleiteten Elternschaft.
8"Das Wohl des Kindes steht an erster Stelle", erklärt Tonja Volkmann. Deshalb darf Kevin Kracau nicht einfach bei seiner Freundin übernachten, es gibt dafür einen Besuchsplan. Zu Beginn einmal im Monat, jetzt alle zwei Wochen, und weil er gern auch an jedem zweiten Wochenende in Mandys Wohnung schlafen würde, steht mal wieder ein Gespräch an. "Die Kleine soll genug Zeit haben, sich an den neuen Partner zu gewöhnen", erklärt Tonja Volkmann. "Auch wenn wir natürlich nicht verhindern wollen, dass Menschen, die sich lieben, Zeit füreinander haben, versuchen wir doch, die neue Situation beratend zu steuern."
Dass beide viel Wert auf das Urteil der 27-Jährigen und ihre Ratschläge legen, merkt man schnell. Wenn sie erzählen, holen sie sich mit Blicken die Zustimmung der jungen Frau, und weil Geraldine oft zu wenig isst, ist Mandy Marwitz für die Ideen und Tipps der Betreuerin dankbar. Auch die Bindung von Mutter und Tochter konnte Tonja Volkmann stärken, indem sie Mandy Marwitz zu ausgiebigen – und regelmäßigen – Kuschelabenden geraten hat und die Duschzeremonien, die Geraldine dank der vielen Hautkontakte liebt, weiter ausdehnt. "Wir stehen den Muttis immer zur Seite, aber solche konkreten kleinen Erfolge freuen mich natürlich sehr", erzählt Tonja Volkmann lächelnd.
Als sich Geraldine das Colaglas vom Tisch stibitzen will, reagiert Kevin Kracau blitzschnell und kitzelt das Mädchen stattdessen. Das jauchzt und lacht und hüpft ins Bad. Die Duschzeit ruft, und auch wenn Geraldine kaum spricht: Ihr Lachen und Quietschen schallt durch die ganze Wohnung. Und zeigt: Hier wohnen nicht nur Menschen, die bei ihrem Alltag Unterstützung brauchen. Hier wohnt vor allem das Glück.
Begleitete Elternschaft in Magdeburg:
Die Pfeifferschen Stiftungen begleiten Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen, die in Wohngemeinschaften, als Paare oder allein in einer Wohnung außerhalb des Stiftungsgeländes leben. Dazu gehören auch die begleiteten Elternschaften. Mandy Marwitz wird intensiv betreut, das bedeutet, etwa 30 Stunden pro Woche unterstützen Mitarbeiterinnen sie und ihre Tochter. Vier Mitarbeiter betreuen dabei fünf Mütter. Frau Marwitz wohnt in einer 60-qm-Wohnung. Ziel ist es, sie zu einem noch eigenständigeren Leben auch außerhalb der Intensivbetreuung zu befähigen. Die Frauen bekommen Tipps zum Umgang mit ihren Kindern (etwa für den Einkauf, das Kochen, Erziehung und Hygiene), ihnen wird Geld zugeteilt. Zusätzlich gibt es Freizeitangeboten und Unterstützung bei sozialen Kontakten.
Die Lebenshilfe Magdeburg begleitet derzeit noch keine Eltern in einem Wohnangebot. Ab August 2013 ist am neuen Standort Leipziger Straße das Mutter-Kind-Wohnen geplant, da auch hier der Bedarf gegeben ist.