Kindeswohl in Gefahr In den Jugendämtern Sachsen-Anhalts spitzt sich die Lage zu: „System vor dem Kollaps“
Immer mehr zu tun: In den Behörden ist das Personal überlastet. Für die Fälle bleibt oft weniger Zeit – damit spitzen sich Krisen in Familien zu. Experten sehen Gefahren für Kinder.

Halle/MZ. - Mehr vernachlässigte Kinder und Familien mit Hilfebedarf: Jugendämter in Sachsen-Anhalt sind zunehmend überlastet. „Die Situation ist dramatisch“, sagt Ariane Berger, Geschäftsführerin des Landkreistages. „Mitarbeiter sind an der Belastungsgrenze und darüber hinaus. Die Arbeit ist immer schwieriger zu schaffen.“ Denn gleichzeitig fehlten Fachkräfte und die Probleme in Familien seien komplexer. „Zudem sind die Kosten massiv gestiegen, vor allem für die stationäre Unterbringung“.
In den Jugendämtern erhöhen sich seit Jahren die Fallzahlen. 2023 wurden 6.161 Verfahren zu Kindeswohlgefährdungen eingeleitet – 28 Prozent mehr als 2022. Rund 1.700 Kinder wurden 2022 in Obhut genommen, darunter unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Es gibt auch mehr Fälle, in denen keine Kindeswohlgefährdung festgestellt wurde, aber ein Bedarf an Hilfe. Laut Landessozialministerium informierten Jugendämter, dass „Hilfeprozesse nicht mehr so kontinuierlich begleitet werden können“. Hausbesuche seien nur mit Verzögerungen möglich.
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Der Kinderschutzbund sieht Verschiebungen: Krisen der Zeit wirkten sich aus. „Es gibt immer mehr Kinder mit Auffälligkeiten und mehr Familien, die damit nicht umgehen können“, sagt Geschäftsführerin Berit Mühl. „Oft können Fälle nur abgearbeitet werden, ohne persönlichen Bezug. Kinder sind nur noch eine Nummer.“ Sie sieht „das System vor dem Kollaps und die Gefahr, dass Kindern etwas passiert“.
Der Landkreis Wittenberg bestätigt: Sozialarbeiter hätten „weniger Zeit für einzelne Fälle“, so Sprecher Alexander Baumbach. Gefährdungen und Krisen in Familien hätten Priorität. „Dadurch werden aber präventive Aufgaben oft nur nachrangig behandelt.“ So steige „das Risiko, dass Krisen entstehen“, die vermeidbar gewesen wären. 1.015 Fälle hatte der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) des Jugendamtes 2019, im Jahr 2023 waren es 1.141 Fälle – ein Plus von zwölf Prozent. Im selben Zeitraum sank die Mitarbeiterzahl von 33 auf 31 – mangels Bewerbern für offene Stellen.
Von einer Überlastung will die Stadt Halle nicht sprechen. Die Zahl der Mitarbeiter im ASD der Kommune habe sich von 60 im Jahr 2019 auf nun 89 Stellen erhöht, von denen zehn unbesetzt sind. Hauptproblem sei „der Mangel an Unterbringungsplätzen“. Die Stadt fordert zudem Hilfe bei der Zuweisung unbegleiteter minderjähriger Ausländer. Das sieht auch Berger so: „Es wäre wünschenswert, wenn das Land mit seinem Landesjugendamt nicht nur Standards festlegt, sondern selbst die Verantwortung für diese Gruppe übernimmt.“
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Die Kinder- und Jugendhilfe ist auch zu einem Kostenfaktor geworden. So haben sich im Burgenlandkreis die Ausgaben ohne Personal von 86 Millionen Euro für 2020 auf etwa 107 Millionen Euro für 2024 gesteigert. „Inzwischen nehmen die Aufwendungen der Jugendhilfe mehr als ein Drittel des gesamten Kreishaushaltes ein“, so ein Sprecher. Es sei „eine deutlich größere finanzielle Unterstützung der Länder“ nötig.
Das Landessozialministerium verweist auf Förderungen für lokale Kinderschutz-Netzwerke sowie für Babylotsen. „2025 soll eine Fachstelle Kinderschutz an den Start gehen, die auch die Jugendämter entlasten wird.“ Doch mit Blick auf bundesweit steigende Kosten im Sozialbereich hält Berger eine Neubewertung in Land und Bund nötig: „Wir haben in diesem Staat ein Ausgabenproblem und müssen kritisch prüfen, was wir uns noch leisten können – ohne Gruppen gegeneinander auszuspielen.“ Mühl fordert strukturelle Veränderungen. „Wir müssen uns ehrlich machen: Welche Angebote sind effektiv und welche nicht? Das Personal ist nicht da und viel mehr Geld auch nicht. Aber die Kinder brauchen unseren Schutz.“