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Herantasten an das Leben Jhumpa Lahiris Roman "Wo ich mich finde"

Abenteuer, Zufriedenheit, große Umbrüche: All das gibt es im Leben der Protagonistin von Jhumpa Lahiris neuem Roman nicht. Das Buch ist ein stilles Manifest des modernen Lebens, wie es wirklich ist.

Von Cindy Riechau, dpa 21.07.2020, 10:24

Berlin (dpa) - Statt in die Lebensfreude anderer mit einzutauchen, beobachtet sie diese nur. Die namenlose Ich-Erzählerin in Jhumpa Lahiris "Wo ich mich finde" verzichtet auf Nüsse, Blutorangen und getrockneten Feigen, die eine Gruppe fröhlicher Touristen ihr während einer Zugfahrt anbietet. Denn sie hat schon ein "kaltes, geschmackloses Brötchen" gegessen.

Die Szene beschreibt eindrücklich, was die Leser im neuen Roman der US-amerikanischen Pulitzer-Preisträgerin (53) erwartet. Das Leben der Protagonistin scheint erstarrt. Sie ist verliebt in den Mann einer Freundin, weiß schon in welchem Seniorenheim sie ihr Alter verbringen will und lebt seit jeher in derselben, ebenfalls namenlosen Stadt in Italien. Abenteuer? Passieren anderen.

Es gibt sie zwar, die kleinen Dinge, die passieren, und die vorsichtigen Reflektionen, die etwas in der Hauptfigur in Gang zu setzen scheinen. Das "Meer von Notizbüchern" in ihrem Schreibwarenladen des Vertrauens will sie "gerne füllen". Wer aber erwartet, dass im Lauf der Geschichte der ganz große Wandel wartet, irrt. Lahiris Geschichte ist kein klassischer Entwicklungsroman, sondern ein vorsichtiges Herantasten der Hauptfigur an das Leben.

In Bruchstücken erfahren wir mehr von ihr. Sie ist Mitte 40, arbeitet als Dozentin an der Universität, geht schwimmen und ins Theater. Die banalen Alltagserlebnisse beschreibt Lahiri in prägnanten Sätzen, aufgeräumt wie die Wohnung ihrer Hauptfigur. Der Text an sich aber ist gefüllt mit Sprachbildern. Mitunter schießt die Autorin dabei jedoch etwas übers Ziel hinaus. Der Vergleich einer hässlichen Hotelanlage mit einem Parkplatz für menschliche Wesen etwa klingt etwas zu gestelzt.

Mit ihrer ansonsten sehr feinsinnigen Sprache gelingt es Lahiri, die banalen Orte und die unspektakulären Erlebnisse der Protagonistin zum Leuchten zu bringen. Der Leser kann die Lebendigkeit nachempfinden, die sich in den stets kurz gehaltenen Kapiteln abspielt, ganz ohne Sentimentalität. Denn auch die Hauptfigur wirkt trotz aller Vergleiche mit anderen nicht elend und unglücklich in ihrem Alltag.

Die Beschreibungen der Hauptfigur sind hin und hergerissen zwischen dem Einzelgängertum, das ihr Metier geworden ist und dem "Schatten" eines ihr wohlgesinnten Menschen, der ihr fehlt. Wie in Lahiris früheren Werken geht es auch in "Wo ich mich finde" um die innere Zerrissenheit. Das auf Italienisch verfasste Buch der amerikanischen Schriftstellerin mit bengalischen Wurzeln ist aber stiller und verzichtet auf einen politischen Überbau.

Am meisten arbeitet sich die Protagonistin an ihrer Familie ab. Es sind vor allem die Töchter um sie herum, die sie beobachtet. Wohl weil das Tochtersein diejenige Rolle ist, die ihr in ihrem Leben am meisten zu schaffen macht. Sie fühlt sich als "schlechte, unaufmerksame Tochter", die Mutter nicht zufriedenstellen vermag.

Ihre Schilderungen bleiben dabei vage. Sie deutet an, dass die Mutter früher wütend werden konnte und die Eltern geizig waren. Ihre Behauptung, keine schöne Jugend gehabt zu haben, wird dadurch aber nur mäßig glaubhaft.

Diese Unschärfe ist die größte Enttäuschung - und zugleich die größte Stärke des Buchs. Die Leser sind Erklärungen gewohnt, die Veränderungen in Gang setzen. Doch stattdessen zeigt die Protagonistin nur plötzlich ein paar Emotionen, weint oder bricht in schallendes Gelächter aus. Am Ende trifft sie dann sogar noch eine wichtige Entscheidung - kann aber trotzdem nicht raus aus ihrer Haut.

Lahiris handlungsarmer Roman ist ein Zeugnis des modernen Lebens, das immer nach den Abenteuern der anderen dürstet und sich schwer zufrieden geben kann. Und auch wenn die Bilder in den sozialen Netzwerken etwas anderes nahelegen - die meisten Menschen essen in ihrem Alltag auch eher Brötchen als exotisches Obst.

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde, Rowohlt, 155 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-498-00110-0

© dpa-infocom, dpa:200721-99-867906/3

Wo ich mich finde