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In vino error: Zwischen Promille und Poesie

Schreibe betrunken, überarbeite nüchtern, soll Ernest Hemingway (1899-1961) mal gesagt haben. Aber, braucht gute Literatur tatsächlich Alkohol? Eine Spurensuche im Deutschen Literaturarchiv.

Von Roland Böhm (Text) und Daniel Naupold (Fotos), dpa 31.12.2015, 10:47
Rotweinflecken auf einem Gedichtmanuskript von Paul Celan. Foto: Daniel Naupold
Rotweinflecken auf einem Gedichtmanuskript von Paul Celan. Foto: Daniel Naupold dpa

Marbach am Neckar (dpa) - Rotweinflecken auf einem Manuskript von Paul Celan (1920-1970), Friedrich Schillers (1759-1805) Römerglas, seine recht lange Rechnung aus dem Gasthaus Goldener Ochse, oder ein Brief, in dem sich Max Frisch (1911-1991) als sehr alkoholisiert outet.

Die Nähe vieler Schriftsteller zum edlen Tropfen, vorzugsweise zum Wein, lässt sich kaum leugnen. Vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch heute: Fast in jedem Nachlass finden wir was zu diesem Thema, berichtet Professorin Heike Gfrereis im Deutschen Literaturarchiv in der Schillerstadt Marbach am Neckar bei Stuttgart. So schrieb Ernst Jünger (1895-1998) einst In vino error neben eine Überkritzelung in seinem Manuskript und führt seine gestrichenen Gedanken so auf eventuell übermäßigen Weingenuss beim Schreiben zurück.

Im Schiller-Nationalmuseum auf der Marbacher Höhe finden sich diverse Weinrömer und Tabakdosen, die Schiller zugeschrieben werden, ebenso wie ein rotes Stirnband gegen Kopfschmerz. Wobei nicht überliefert ist, wie oft diese auf Weingenuss oder das Tabakschnupfen zurückgingen. Ein Rezept seines Arztes für Brechmittel ist ebenso erhalten wie lange Rechnungen aus dem Gasthaus Goldener Ochse.

Wein hat seit der Antike auch eine philosophisch-literarische Tradition, sagt Gfrereis. Es ist eine Zeit lang schon fast guter Ton, dass sich Autoren mit der Zigarette und dem Weinglas darstellen lassen. Wein könne den Geist beflügeln, heiße es bis heute in der Szene, berichtet Hans Thill, Beisitzer im Präsidium des PEN-Zentrums Deutschland. Und Schnaps lässt die Flügel hängen, ergänzt er den Vergleich zu härteren Getränken. Wein gelte als ein Mittel, das die normalen Sinne erweitert, sagt Gfrereis. Diese Funktion werde in der Literatur der Moderne dann zunehmend von Drogen übernommen.

Er kenne keinen Lyriker, berichtet Thill, der nicht auch gerne mal ein Gläschen trinke. Das mag bei Architekten durchaus anders sein. Daraus aber abzuleiten, das Schreiben funktioniere gut nur mit einem gewissen Weinspiegel, sei sicher falsch. Persönlich schreibe er am besten morgens - sicher ohne schon mit Weintrinken angefangen zu haben.

Peter Huchel (1903-1981) führt Brandlöcher im Papier auf den Trank zurück; Hermann Hesse (1877-1962) lässt im Steppenwolf Harry Haller Gedichte auf eine Weinkarte schreiben. Fast legendär ist die Berliner Bücherbar, eine Verkaufsidee von Kurt Tucholsky (1890-1935): Eine Stunde vor der Lesung werden dort die zur Literatur passenden hochprozentigen Getränke ausgeschenkt.

Auch in Briefwechseln von Autoren spiele der Alkohol über die Jahrhunderte eine große Rolle, berichtet Gfrereis, ebenso in Widmungen: So schrieb Georg Britting (1891-1964) einst für Gottfried Benn (1886-1956) in ein Buch Dem Biertrinker Benn vom Allestrinker Britting - verbunden mit dem Hinweis auf einen Wettbewerb der beiden, wer wohl mehr Halbe trinken könne.

Der Zusammenhang zwischen Promille und Poesie scheint sehr direkt. Doch: Keiner schreibt, er musste Wein trinken, um sich die Zunge zu lösen oder die Gedanken zu befreien, berichtet Gfrereis. Keiner setzt die Ursache mit der Wirkung gleich. Das beruhigende Fazit der Germanistik-Professorin: Man kann gute Literatur auch nüchtern schreiben - vielleicht muss man sogar nüchtern dazu sein.

PEN-Zentrum Deutschland

Deutsches Literaturarchiv

Zwei Weingläser aus dem Nachlass Friedrich Schillers. Foto: Daniel Naupold
Zwei Weingläser aus dem Nachlass Friedrich Schillers. Foto: Daniel Naupold
dpa
Der Schriftzug «Der Trunk» auf einem Brief des Schriftstellers Peter Huchel von 1971 verweist auf einen Brandfleck. Foto: Daniel Naupold
Der Schriftzug «Der Trunk» auf einem Brief des Schriftstellers Peter Huchel von 1971 verweist auf einen Brandfleck. Foto: Daniel Naupold
dpa