Morgen vorgezogener Urnengang im benachbarten Königreich Belgien-Wahl im Zeichen des Konflikts zwischen Flamen und Wallonen
Von Dieter Ebeling
Ein Jahr früher als geplant werden die Belgier morgen an die Wahlurnen gerufen. Die Koalition des christdemokratischen Premierministers Yves Leterme ist über dem Konflikt zwischen den Niederländisch sprechenden Flamen und den Französisch sprechenden Wallonen zerbrochen. Doch dieser Konflikt – als "Sprachenstreit" griffig, aber unzureichend beschrieben – könnte nach der Wahl vom 13. Juni noch schwieriger zu lösen sein als zuvor.
Die vorgezogene Wahl ist ein weiterer Versuch, ein dauerhaftes Zusammenleben von 6 Millionen Flamen und 4 Millionen Wallonen in dem erst 180 Jahre jungen Staat zu organisieren. Der Flame Leterme hatte nach der Wahl 2007 geschlagene neun Monate gebraucht, bis er eine Fünf-Parteien-Koalition von Christdemokraten und Liberalen beider Landesteile sowie den wallonischen Sozialisten zustande brachte. Im Dezember 2008 trat er zurück, wurde aber im November 2009 erneut Regierungschef. Im April 2010 scheiterte diese Regierung am Sprachenstreit, seither versieht er im Auftrag von König Albert II. lediglich die Geschäfte – bis auf Weiteres.
Alles deutet darauf hin, dass der von wohlmeinenden Kommentatoren als "glücklos" bezeichnete Leterme nach den Wahlen noch eine ganze Weile geschäftsführend amtieren wird. Da Belgien im zweiten Halbjahr die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft führt, könnte es auch die EU sechs Monate lang mit Letermes Restmannschaft zu tun bekommt. Denn ein monatelanger Koalitionspoker droht.
In Flandern können Umfragen zufolge die separatistischen Kräfte der N-VA (Neuen Flämischen Allianz), die bisher von Letermes flämischen Christdemokraten (CD+V) gebremst wurden, zur stärksten politischen Kraft im niederländisch-sprachigen Belgien werden. Die Christdemokraten drohen zur Nummer Zwei zu werden. Dann würde alles erst richtig schwierig. Die Bildung einer belgischen Regierung ist nicht nur ein kompliziertes politisches Farbenspiel – eine Koalition muss auch die beiden großen Sprachgruppen einschließen. Und die Koalition muss sich über die Grundzüge einer Staatsreform einig sein.
Zentrales Thema der Reform wird die Sprachen-Regelung im Umland der Hauptstadt Brüssel sein. Flämische Nationalisten wollen die zu Flandern gehörenden Umlandgemeinden, in denen viele Französischsprachige wohnen und dort einen sprachlichen Sonderstatus haben, nicht länger politisch mit dem frankophonen Brüssel teilen. Angesichts des Widerstandes der Wallonen – die frankophone Christdemokratin Joëlle Milquet fordert gar einen "Korridor" zwischen der Wallonie und der von Flandern umschlossenen Sprachinsel Brüssel – drohen die flämischen Hardliner mit dem Abfall von Belgien und der Gründung eines unabhängigen Staates.
Von der künftigen Regierung wird wieder einmal die Quadratur des Kreises verlangt, die selbst im kompromissgestählten Belgien selten gelingt. Umstritten ist nicht nur – wichtig genug – die Sprache, die in Behörden oder Schulen gesprochen wird. Tatsächlich stoßen in Belgien zwei unterschiedliche europäische Kulturtraditionen aufeinander, ohne – wie anderswo – vom Rhein oder von den Alpen getrennt zu werden.
Einst war die frankophone Minderheit, reich dank Kohle und Stahl des Südens, tonangebend und sorgte dafür, dass das Führungspersonal des Königreiches sich in der Sprache Voltaires verständigte. Mittlerweile sind die Flamen keine armen Bauern mehr, sondern haben auf grünen Wiesen im Norden die moderne wirtschaftliche Macht Belgiens geschaffen. Sie drohen den vergleichsweise ärmeren Wallonen den Geldhahn abzudrehen und wettern mit neuem Selbstbewusstsein gegen die jahrzehntelange "Französisierung": Noch vor 200 Jahren war Brüssel eine Niederländisch sprechende Stadt.
Es geht also in Belgien nicht um einfache politische Kategorien wie Rechts, Links oder Mitte. Es geht darum, ob die Politiker noch einmal eine Chance bekommen, die Wunderformel für den Fortbestand des Königreichs zu finden. Yves Leterme wird, wenn es irgendwann eine Regierung gibt, der flämischen Christdemokratin Marianne Thyssen den Vortritt lassen. Wirklich wichtig aber wird das Abschneiden der flämischen Scharfmacher von Bart De Wever sowie des rechtsextremen Vlaams Belang sein. Die Belgier haben keine Möglichkeit, ihren Ärger über die Zustände durch Daheimbleiben auszudrücken: Es herrscht Wahlpflicht.(dpa)