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Pau und Edathy in Magdeburg zu NSU-Morden und dem Versagen von Polizei und Geheimdiensten Ein Schlangenei verrät, was daraus wird

11.10.2012, 03:14

In seinem Film "Das Schlangenei" lässt Ingmar Bergman den Wissenschaftler Vergérus das Aufkommen einer politischen Bewegung in Deutschland vorhersagen, die Wut, Angst und Frustration in der Bevölkerung für sich nutzbar machen wird: "Jeder kann sehen, was die Zukunft bringt. Es ist wie ein Schlangenei. Durch die dünnen Häute kann man das fast völlig entwickelte Reptil deutlich erkennen."

Der Film spielt in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, was in den 30er und 40er Jahren kam, weiß jeder. Ausgerechnet dieser Film und diese Szene kamen mir bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion in Magdeburg am Dienstagabend in den Sinn.

An diesem Abend hatte der Magdeburger Bundestagsabgeordnete Burkhard Lischka (SPD) seine Abgeordnetenkollegen Petra Pau (Linke) und Sebastian Edathy (SPD) befragt. Das Thema: Die zehn Morde der rechtsextremistischen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und das Versagen der Sicherheitsbehörden.

Damit befasst sich seit Januar ein Untersuchungsausschuss des Bundestages. Dessen Vorsitz führt Edathy, Bundestagsvizepräsidentin Pau ist Obfrau in diesem Gremium. Warum also konnte das Neonazi-Trio über 15 Jahre lang im Untergrund unerkannt agieren und warum schritten die Sicherheitsbehörden nicht ein?

Aus den Berichten, die sie gelesen hat, schlussfolgert Pau, dass die Behörden nicht auf dem rechten Auge blind waren. Man müsse vielmehr fragen, was mit den Hinweisen und Informationen geschehen sei. "Wer hat was getan, wer hat was unterlassen?", fragt Pau.

Noch gibt es keinen Abschlussbericht. Aber es gibt geschredderte und zurückgehaltene Akten, Kompetenzgerangel der Sicherheitsorgane, unprofessionelles Vorgehen, offensichtliches Versagen. Auch Vertuschungsversuche? Der Verdacht liegt nahe, nachdem der Militärische Abschirmdienst verspätet und zögerlich Kontaktaufnahme zum NSU-Mitglied Uwe Mundlos einräumte.

"Zufälle, Schlamperei, Versagen?", fragt Lischka. Es fällt schwer, nicht an Verschwörungstheorien zu glauben. Einige haarsträubende Beispiele: Auf die Frage, warum die Polizei nicht alle Informationen erhalten habe, hätte ein Verfassungsschützer geantwortet: "Würden wir das tun, würden wir uns überflüssig machen". Der Geheimdienst auf einer autonomen Insel als Archivar brisanter Informationen? Wer braucht einen Dienst, der Hinweise zur Gefährdung der Demokratie wegschließt und sich seine eigene Realität schafft? Wie ernst muss man einen Geheimdienst nehmen, in dem V-Leute des Bundesamtes Beurteilungen über Rechtsradikale schrieben, die in Bundesländern als V-Leute geführt worden waren?

Pau und Edathy machten auf einen erschreckenden Alltagsrassimus bei Behörden aufmerksam. Der zeige sich nicht allein darin, dass bei den NSU-Morden die Ermittler sechs Jahre lang allein im familiären Umfeld der Opfer nach Tätern suchten und einen möglichen rechtsradikalen Hintergrund völlig ausblendeten. Bei den Ermittlungen in Bayern sei man von einer angeblichen türkischen Mentalität ausgegangen, die darin bestünde, gegenüber der Polizei nicht die Wahrheit zu sagen.

Doch bleiben wir in Sachsen-Anhalt. Pau nennt ein Beispiel. Am Abend des 18. Juni sei in Halle ein Afrikaner von einer Gruppe von bis zu sechs Rechtsextremen überfallen worden. In Todesangst wehrte er sich. Als Polizei eingriff, ließ diese den einzigen Rechtsextremen, den sie greifen konnte, laufen. Der verletzte Afrikaner wurde nach seinen Papieren gefragt. Pau erinnert zudem daran, dass es in Deutschland eine Sektion des Ku-Klux-Klan gibt, der auch zwei baden-württembergische Polizisten angehörten.

Weiter: Auf einer Information an den Verfassungsschutz über den Versuch Rechtsradikaler, Kader bei Minderjährigen zu rekrutieren, findet sich die Randbemerkung "keine öffentliche Wirksamkeit, kein Handlungsbedarf." Dass Vorbeugen das beste Mittel gegen Rechtsextremismus ist, wird hier völlig ausgeblendet.

Pau hebt die Arbeit der Initiativen gegen Rechtsradikalismus hervor. Vorwürfe, deren Warnungen seien übertrieben, haben sich nicht nur angesichts der NSU-Morde als haltlos erwiesen. Die Bundesregierung gehe von 50 rassistisch/rechtsextremistisch motivierten Morden seit 1990 aus. Die Amadeu Antonio Stiftung, die der rechtsextremen Alltagskultur entgegentritt, zähle jedoch 180, berichtet Pau.

Und wenn Edathy auf das NSU-Trio bezogen feststellt: "Alle sind nicht als Neonazis geboren worden", trifft das für jeden Rechtsextremisten zu. Wie aber wird man in einer Demokratie zum Nazi? Edathy zitiert einstigen Bundesinnenminister Otto Schily: "Wer Jugendzentren und Musikschulen schließt, der schadet der Demokratie".

Und Pau hat Recht, wenn sie fordert, man müsse "die Sensibilität für Rechtsextremismus, der bedrohlich ist, wiederherstellen". Das gilt nicht nur für Polizei und Geheimdienst. In diesem Sinne sollten wir es mit Shakespeare halten. In seinem Drama Julius Cäsar heißt es: "Darum denkt wie ein Schlangenei, Das ausgebrütet, verderblich würde wie seine ganze Art Und also tötet ihn noch in der Schale."