Ein Bunker war Sammelstelle für Gastarbeiter München, Hauptbahnhof, Gleis 11
Sie hatte das Paradies erwartet. Was sie fand, war ein Keller. Vier Jahrzehnte ist es her, dass Adalet Günel zum ersten Mal im Bunker unter dem Münchner Hauptbahnhof stand. Viel geändert hat sich dort seither nicht: acht Räume sind es, alle leer und kalt. Hier kam die heute 60-Jährige am 15. September 1971 in Deutschland an - wie Hunderttausende andere Gastarbeiter. Das Gleis 11 und der ehemalige Luftschutzbunker darunter waren die zentrale Sammelstelle für alle Gastarbeiter etwa aus Italien, Griechenland oder der Türkei.
Der Zug aus Istanbul brauchte 70 Stunden bis nach München. Zu der Unsicherheit, was das Leben in dem fremden Land ihnen bringen würde, kam die Erschöpfung. Kaum standen die Waggons, wurden die Ankömmlinge in den Keller verfrachtet. Im Bunker unter Gleis 11 hatte die Bundesanstalt für Arbeit eine "Weiterleitungsstelle" eingerichtet. Dort wurden die Arbeitskräfte begrüßt, bekamen etwas zu essen und konnten sich ein wenig ausruhen. "Ich war völlig schockiert: Istanbul ist so eine schöne Stadt, und der Bunker war so hässlich", erinnert sich Günel.
Jeder bekam einen Arbeitsvertrag in die Hand gedrückt und eine Nummer zugeteilt. Ihre Koffer konnten sie in Regale an der Wand legen. Adalet hatte ein Abendkleid darin, einen Pelzmantel, Parfüm und türkische Kekse. Dicht gedrängt saßen sie auf Bänken und warteten, bis sie aufgerufen wurden.
Die Gastarbeiter wurden aufgeteilt und auf die Weiterreise geschickt. Für Adalet ging es weiter ins mittelfränkische Dombühl im Kreis Ansbach. Dort sollte sie beim Plastiktütenfabrikanten Böhme arbeiten.
Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten Deutschland und die Türkei das Anwerbeabkommen, in dem der Aufenthalt türkischer Arbeitskräfte in Deutschland geregelt wurde. Da stand drin, dass jeder Gastarbeiter höchstens zwei Jahre in Deutschland bleiben sollte. Vor allem auf Wunsch der Arbeitgeber wurde dies später geändert. 1973 gab es einen Anwerbestopp - danach wurde auch die Weiterleitungsstelle im Bunker dicht gemacht.
In der Türkei bewarben sich der Bundesregierung zufolge von 1961 bis 1973 knapp 2,7 Millionen Menschen um einen Arbeitsplatz in Deutschland, aber nur bis zu 750000 kamen tatsächlich. Der Frauenanteil lag bei rund 20 Prozent. Laut dem Museum für Migration aus der Türkei kehrte ungefähr die Hälfte der zwischen 1961 und 1973 angeworbenen Gastarbeiter in die Türkei zurück - einige von ihnen nach kurzer Zeit. Das Heimweh war zu groß.
Gemeinsam mit Makbule Kurnaz erzählt Adalet Günel ihre Geschichte nach. Die beiden treten im Dokumentartheater-Projekt "Gleis 11" der Münchner Kammerspiele auf. Die Zuschauer gehen dabei im Bunker von einem Raum zum anderen - außer für das Theaterprojekt wird der Keller heute nicht mehr genutzt.
Mit einem Sonderzug von Istanbul nach München wurde an damals erinnert. Etwa 40 Zeitzeugen aus der ersten Generation von Gastarbeitern sowie türkische Politiker und Künstler machten die fünftägige Reise mit. Der Zug kam zum Jahrestag am Sonntag in München an.
Von den etwa 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, die heute in Deutschland leben, sind heute viele Nachkommen dritter oder vierter Generation der ersten Gastarbeiter. Die meisten von ihnen denken nicht im Traum daran, in die Heimat ihrer Eltern zurückzukehren. Auch die Kinder von Adalet Günel nicht. Das Paradies war Deutschland vielleicht nicht. "Aber unsere Kinder haben es besser hier - vor allem das Gesundheitssystem ist besser", sagt sie. Adalet Günel hatte immer Sehnsucht nach der Türkei. (dpa)