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Jubiläum 125 Jahre Chemie in Bitterfeld-Wolfen

Der Region haftete lange ein Negativ-Image an. Bitterfeld-Wolfen galt als Synonym für Raubbau an Mensch, Umwelt und Natur. Das ist vorbei.

04.06.2018, 23:01

Bitterfeld-Wolfen (dpa) l Fröhlich baden Familien bei blauem Himmel im Wasser des Goitzsche-Sees. Segelboote ziehen über das „Bitterfelder Meer“, wie der künstlich entstandene See im Volksmund genannt wird. „Wie Urlaub hier“, „Das hätte ich nicht gedacht, dass sich das mal so entwickelt, ausgerechnet hier“ oder „Weißt Du noch, als hier die Kohlebagger waren, der Dreck und Krach und die stinkenden Chemiebuden?“ – so sagen die Gäste in einem Restaurant mit Bar, während sie in Liegestühlen am Ufer Cocktails trinken.

Gefeiert wird in der Region Bitterfeld-Wolfen aber nicht nur in der Freizeit. Unter dem Motto „Wir leben Chemie“ wird in diesem Jahr an das 125-jährige Bestehen des Industriestandorts erinnert – mit Ausstellungen, Festwoche und Messen. Unter dem Motto „Wir hier. Leben und Arbeiten in der Chemieregion Bitterfeld-Wolfen“ zeigt ab morgen eine Ausstellung anhand von Porträts die Geschichte, „was die Menschen bewegt, wie sie am Standort leben und arbeiten“, erzählt Uwe Holz, Leiter des Industrie- und Filmmuseums Wolfen. Bilder von Menschen, ob Arbeiter, IT-Spezialist, Feuerwehrmann oder Künstler sollen die Region zeigen.

Einer der Zeitzeugen ist der Schweißer Günter Piechatzek (76) aus Bobbau bei Wolfen. „Die Zeiten sind zwar anders, aber ein bisschen wiederholen sie sich. Wenn wir heute von lebenslangem Lernen sprechen, dann ist das ein alter Hut“, sagt der Facharbeiter. Gutes Personal sei zu jeder Zeit unabdingbar. Denn die Sorge um qualifiziertes Personal drücken angesichts des demografischen Wandels derzeit auch Firmen am Standort, der trotz Strukturwandels zudem mit seinem alten Ruf zu kämpfen habe, wie Michael Polk, einer der Geschäftsführer der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen GmbH, sagt.

Ein für das Jubiläum in Auftrag gegebener Dokumentarfilm soll nun auch anhand von Lebensgeschichten sowie Landschaftsaufnahmen ein bisher nicht gekanntes Bild des Standorts zeigen, sagt Patrice Heine. Wie Polk ist er Geschäftsführer der Chemieparkgesellschaft. Nach fast 30 Jahren des Wandels klebe an dem Landstrich überregional ein Negativ-Image, beklagen die beiden Manager. Nach dem Mauerfall war in Studien von Umweltexperten nachgewiesen worden, dass Bitterfeld-Wolfen die dreckigste Region Europas war.

Von DDR-Wirtschaftslenkern heruntergewirtschaftete Betriebe wie das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), riesige Tagebaue und marode Anlagen wie auch in der Orwo Filmfabrik und Rauchschwaden auch über Wohngebieten prägten das graue Bild. Heute zeichnen moderne Betriebe, eine sich erholende Umwelt, sanierte Wohnungen und Seen das Bild von Bitterfeld-Wolfen, einem der größten Industriestandorte Ostdeutschlands.

Dessen Anfang machte die Firma AEG im Jahre 1893. Die Geschichte von Bitterfeld-Wolfen ist wechselhaft – mit Kapiteln der Nazi-Zeit, Zwangsarbeit, ökologischer Katastrophe, Erfindergeist, sozialistischem Auf- und Niedergang und Neuanfang, wie Dokumente und Exponate im Industrie-und Filmmuseum zeigen. So auch, dass Zehntausende Arbeitsplätze mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft verloren gingen. Die Produktion der Solarindustrie in der Region ging angesichts von Billigkonkurrenz aus Asien unter.

Damit erlebten tausende Beschäftigte zum zweiten Mal in kurzer Zeit nach 1990 gravierende Brüche in ihren Biografien. Davon hat sich die Region trotz zwischenzeitlich gesunkener – ehemals zweistelliger – Arbeitslosenquote (Mai 2018: Anhalt-Bitterfeld 7,7 Prozent; Sachsen-Anhalt 7,7 Prozent) nicht vollständig erholt. Leerstand in Kommunen, Langzeitarbeitslosigkeit, Abwanderung und Wahlerfolge der AfD – Unmut über die Politik gehören heute auch zum Landkreis Anhalt Bitterfeld.

Seit 1990 wurden laut Polk – mit Hilfe des Bundes, des Landes und der EU – rund 4,5 Milliarden Euro im Chemiepark investiert. Etwa 12.000 Menschen sind in Firmen, darunte Betriebe von international agierenden Unternehmen, Mittelständler und Dienstleister, beschäftigt. Die Entwicklung könne sich sehen lassen, sagt Polk. Zeitzeuge Piechatzek nickt ihm zu und blickt dabei auf seinen Schweißerpass von 1957 – das Qualitätssiegel des Berufs. „Bis heute“. Meinung

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