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Brexit Green: Irland-Frage am gefährlichsten

Lord Stephen Green gilt als bester britischer Deutschland-Kenner. Er war jüngst Gast der FDP-nahen Naumann-Stiftung in Magdeburg.

Von Steffen Honig 21.11.2017, 00:01

Volksstimme: Lord Green, Sie waren in Ihrem Leben Bank-Manager, Minister und Pfarrer. In welcher Eigenschaft sind Sie nach Magdeburg gekommen?
Lord Green:
Ich bin hier wohl von allem ein wenig. Im Vordergrund steht der Brexit mit all seinen Auswirkungen für Großbritannien und Europa. Dazu kommt – und das ist für mich ganz und gar unüblich – eine Gedenkrede zum Volkstrauertag auf Einladung des Landtages. Eine große Ehre für mich.

Bleiben wir dabei: Jüngst haben die Präsidenten Frankreichs und Deutschlands im Elsass ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs eingeweiht. Ein Zeichen der Versöhnung. Wie ist es um diese zwischen Deutschen und Briten bestellt?
Eine interessante Frage: Wir sind jetzt im 21. Jahrhundert, der letzte Weltkrieg liegt über 70 Jahre zurück. Die neue Generation meiner Kinder und Enkel sieht Deutschland als ein ganz normales Land an. Ich glaube persönlich, dass die Wasserscheide für die Briten das Jahr 2006 war, als Deutschland Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft war. Viele junge Briten kamen nach Berlin und haben gesehen, dass Berlin sich zur Weltstadt entwickelt – wenn ich das in Magdeburg sagen darf (lacht) – und erlebten eine wunderbar offene, kosmopolitische Gesellschaft. Hinzu kommt, dass Deutschland die führende Rolle in der EU spielt, als größtes Land mit der mächtigsten Volkswirtschaft. Die Vergangenheit treibt sicher noch immer die ältere Generation in Großbritannien um. Aber es ist eine Pflicht, nie zu vergessen, was passiert ist.

Also wird in britischen Boulevardzeitungen irgendwann auch nichts mehr von „Blitzkrieg“ bei Fußballmatches gegen die Deutschen stehen?
Interessanterweise ist Englisch die Sprache, die mit am meisten Begriffe aus anderen Sprachen übernommen hat. Aus dem Deutschen stammen bei uns etwa „Angst“, erwähnter „Blitzkrieg“ oder auch „Weltanschauung“ …

… das ist mal etwas Positives  …
... genau. Die deutsche Kultur ist eben sowohl erhaben als auch tragisch.

Ihr neues Buch heißt „Dear Germany – Eine Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit“. Es wohnen offensichtlich mehrere Seelen in Ihrer Brust. Nun sind durch den Brexit sowohl die britisch-deutschen wie die britisch-europäischen Beziehungen in schwerem Fahrwasser. Wie sehr trifft Sie das?
Ich bedauere die Brexit-Entscheidung zutiefst und bin als überzeugter „Remainer“, für den Verbleib unseres Landes in der EU. Man muss aber die Realität akzeptieren. Ich hoffe, das letzten Endes eine neue, vernünftige Partnerschaft begründet werden kann. Ich hoffe auch, dass die Briten in den nächsten Jahrzehnten erkennen, dass eine enge Verbindung zum Kontinent unabdingbar ist und bleibt. Wir sind die Kinder unserer geteilten Geschichte, unserer geteilten Kultur. Das verschwindet nicht, obwohl verbissene „Leaver“ behaupten, dass es engere Verbindungen zu den USA oder dem Commonwelth gibt als zu Frankreich und Deutschland.

Der an sich schon komplizierte Brexit-Prozess ist noch schwieriger geworden als gedacht. Wodurch?
Es geht vor allem ums Geld und die Staatsbürgerschaftsrechte von drei Millionen EU-Europäern in Großbritannien und einer Million Briten auf dem Kontinent. Ich finde es deprimierend, dass die Verhandlungen über diese Themen solange dauern. Ich habe den Eindruck, dass beide Seiten Schuld daran sind.

Frau May hat dessen ungeachtet den offiziellen Austritt am 29. März 2019 verkündigt. Glauben Sie, dass bis dahin eine Übereinkunft zu allen strittigen Fragen oder einen harten Brexit geben wird?
Ich hoffe, dass uns ein harter Schnitt erspart bleibt. Das wäre gefährlich für alle. Letztendlich, glaube ich, wird ein vernünftiger Vertrag erreicht werden.

Wie viel Geld müsste Großbritannien dafür zahlen?
Ich würde mich da nicht auf eine Zahl festlegen. Der Betrag wird irgendwo zwischen dem viel zu geringen britischen Angebot von 20 Milliarden Euro und den 100 Milliarden, die die EU will, liegen. Die gefährlichste Frage ist die irische Frage.

Warum?
Das ist ein Vermächtnis der Geschichte. Vor 100 Jahren wurde die irische Republik gegründet, wobei sich sechs nordirische Grafschaften abspalteten und Teil des Vereinten Königreiches wurden. Eine Zeit voller Konflikte bis zum Karfreitagsabkommen von 1998. Seither sind die Beziehungen gedeihlich, die Grenze ist praktisch unsichtbar. Niemand will zurück zu den Zeiten der nordirischen Unruhen in den 1970er und 1980er Jahren, die
20.000 Tote forderten. Es müssen Vereinbarungen erzielt werden, damit die Grenze offen bleibt und die freie Bewegung der Bürger gewährleistet wird.

Rechnen Sie mit einer Lösung?
Ja, deshalb ist die Irland-Frage für mich ironischerweise ein Grund zu Optimismus. Es ist so gefährlich. Jedermann erkennt daran, dass ein harter Brexit nichts bringen würde. Wir brauchen ein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU, dass diese komplizierte Balance hält.

Sie betonen die deutsche Führungsrolle in Europa. Doch der Hoffnungsträger ist derzeit der französische Präsident Emmanuel Macron. Meinen Sie, dass Frankreich in den nächsten Jahren die zentrale Rolle in Europa einnehmen könnte?
Ich denke nicht. Das Beste wäre, wenn ein gestärktes Frankreich die führende Rolle im europäischen Projekt mit Deutschland teilen könnte. In den vergangenen 20 Jahren ist Frankreich im Vergleich zu Deutschland immer schwächer geworden. Ich glaube nicht, dass in 20 Jahren wieder alle Straßen nach Paris führen.

Kürzlich wurde eine gemeinsame europäische Verteidigung aus der Taufe gehoben. Großbritannien mit seiner schlagkräftigen Armee und dem Nuklearpotenzial wäre trotz Brexits ein wichtiger Partner. Glauben Sie, dass sich die Briten durch eine solche militärische Kooperation eine Hintertür für eine Rückkehr in die EU aufhalten könnten?
Das kann sein. Ein Nato-Ausstieg war ja auch kein Thema bei den Brexit-Verhandlungen. Nur zwei Länder außer den USA zahlen die angestrebten zwei Prozent vom Staatsbudget für die Verteidigung: Großbritannien und Griechenland. Das zeigt, welche Rolle die Briten in einer europäischen Verteidigung spielen könnten. Ob das eine Tür für eine neue Partnerschaft öffnen wird, muss man sehen. Das geht über die Sicherheitsfrage hinaus. Ich denke an eine weitere Mitarbeit im Erasmus-Programm und dem Folgerahmen der Innovationsinitiative „Horizont 2020“. Ich bin zuversichtlich, dass die Briten und Europärer in verschiedenen Bereichen des sozialen und politischen Lebens wieder Brücken bauen werden. Vielleicht steht dann nach einer Generation eine neue Mitgliedschaft der Briten in den Institutionen des europäischen Projekts zur Debatte. Wie diese Institutionen dann in 20 oder 30 Jahren aussehen werden, weiß heute kein Mensch. Nur eines wissen wir alle: Die EU braucht Reformen.