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Ratspräsidentschaft Kroatien ist Anwalt des Balkans

Mitten im Getümmel um die Stichwahl des Staatsoberhauptes rückt Kroatien in den Blickpunkt Europas.

Von Steffen Honig 01.01.2020, 00:01

Zagreb l Die kroatischen Prioritäten für die erstmalige halbjährige Führungsrolle in der Europäischen Union lesen sich blumig. Die EU-Ratspräsidentschaft will sich für ein Europa einsetzen, das sich entwickelt, verbindet, seine Bürger schützt und an Einfluss gewinnt. Wer wollte dagegen etwas sagen?

Für die eher schwammige Agenda gibt es Gründe, die sich bei jeder Präsidentschaft gleichen. Eine Regierung kann sich viel vornehmen – das Programm wird letztlich von der Realität bestimmt.

Bei Kroatien kommt noch eine innenpolitische Besonderheit hinzu: Zunächst entscheiden die Bürger am 5. Januar 2020 per Stichwahl, ob die konservative Amtsinhaberin Kolinda Grabar-Kitarovic die Staatspräsidentin bleiben kann oder vom sozialdemokratischen Herausforderer Zoran Milanovic abgelöst wird. Eine Entscheidung, die sich auch auf die Ausrichtung der Präsidentschaft auswirken wird. Allerdings nur im Detail, denn die erste Aufgabe diktiert die Zeit. Kroatien muss fernab der Prioritätenliste dafür arbeiten, dass der bevorstehende Austritt Großbritanniens Ende Januar ohne größere Verwerfungen über die Bühne geht.

Der schwierige Teil des Brexit-Verfahrens folgt zum Jahresende: Dann sollen die künftigen Beziehungen des Vereinigten Königreiches zur EU in Vertragsform gegossen sein. Kroatien steht dann freilich nicht mehr in der Verantwortung. Sondern Deutschland, das im Sommer bei der Ratspräsidentschaft folgen wird.

Eine für Kroatien entscheidenden Frage, die den Aspekt „einflussreiches Europa“ dominieren dürfte, ist die EU-Neuaufnahme von Ländern des Westbalkans. Zagreb kann hier mit Rückendeckung aus Berlin rechnen: der Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien.

Darüber hatten sich die Mitgliedsstaaten im Oktober verzankt. Vor allem Frankreich will derzeit keine Erweiterung. Begründung von Präsident Emmanuel Macron: erst mehr EU-Integration, dann neue Mitglieder. Das hat durchaus etwas für sich.

Es erscheint schon paradox: Mit Großbritannien verabschiedet sich ein wirtschaftliches und politisches Schwergewicht aus dem Brüsseler Klub. Dafür sollen kleine Balkanländer hinzustoßen, die gesellschaftlich kaum gefestigt und dazu ökonomisch schwach sind. Ein reines Zuschussgeschäft, in der Tat.

Nur nutzt der EU überhaupt nichts, wenn der Westbalkan instabil bleibt. Über die kroatische EU-Außengrenze hat sich bereits eine neue Flüchtlingsroute herausgebildet. Bosnien-Herzegowina droht mal wieder zu zerfallen, womit die Kriegsgefahr in der Region steigen würde. Außerdem hat die EU in ihrer Westbalkan-Strategie ausdrücklich eine EU-Perspektive für alle Staaten dort versprochen. Darauf haben sich Nordmazedonien und Albanien einfach mal verlassen.

Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen bedeutet zudem nicht automatisch auch die Aufnahme in die Europäische Union. Sonst wäre die Türkei längst drin.