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Russland Zorn der Moskauer entlädt sich

Tausende demonstrieren in Moskau gegen befürchtete Wahlmanipulationen. Die nervöse Staatsmacht greift durch.

28.07.2019, 23:01

Moskau (dpa) l Auf Moskaus Prachtstraße, die direkt zum Kreml führt, stehen sich am Sonnabend zwei Gruppen wie an einer Front gegenüber. Tausende Demonstranten mit Bannern auf der einen Seite, Polizisten mit Schlagstöcken auf der anderen.

Der Zorn der Protestierenden richtet sich gegen die Stadtbehörden: den kremltreuen Bürgermeister Sergej Sobjanin, die Wahlkommission und auch gegen die Einsatzkräfte. „Ihr seid eine Schande für Russland“, skandieren sie gegenüber dem Rathaus mitten auf der Twerskaja-Straße.

„Russland wird frei sein“, hört man noch weit in die Seitengassen hinein, wohin die Demonstranten von der Polizei gedrängt werden. Am Ende werden mehr als 1000 Menschen festgenommen – junge Studenten, Familienväter und auch Rentner landen im Polizeibus. 3500 Demonstranten zählt die Polizei.

Viele Moskauer gehen seit mehr als zwei Wochen täglich auf die Straße. „Dopuskaj“ – auf Deutsch etwa: „Lass sie zu“ – ist die stets wiederholte Forderung. Demnächst wird das Parlament der Zwölf-Millionen-Metropole neu gewählt, aber auf der Wahlliste finden sich kaum Oppositionspolitiker finden. Dutzende Kandidaten durften nicht antreten; die Wahlkommission sprach von Formfehlern.

Die bekannten Kremlkritiker Ilja Jaschin, Ljubow Sobol oder auch Dmitri Gudkow hätten Unterstützungserklärungen gefälscht, hieß es. Die Opposition hält dies für ein plumpes Manöver der Behörden, denn sie könnten der Kremlpartei Geeintes Russland die Stimmen wegnehmen.

Die Regierungspartei mit ihrem Vorsitzenden Dmitri Medwedew kämpft nämlich an einer eigenen Front: Die Bevölkerung macht sie für die schlechte Wirtschaftslage im Land verantwortlich. Sie hat eine umstrittene Rentenreform durchgebracht, gleichzeitig sinkt neben Löhnen auch der Lebensstandard. Für Geeintes Russland könnte die Regionalwahl, in der auch über 16 Gouverneure in der Provinz abgestimmt wird, deshalb dramatisch ausfallen.

„Seien wir ehrlich: Uns geht es beschissen. Die Renten sind niedrig, das Gesundheitssystem ist ein Witz. Wir wollen was ändern, werden daran aber vom System gehindert“, sagt die Moskauerin Irina. Gudkow und Sobol schafften es nicht mal zum Protest, sie wurden bereits auf dem Weg zur Demo festgenommen. Genauso erging es Putins schärfstem Kritiker Alexej Nawalny. Er hatte federführend zu dem Protest aufgerufen und daraufhin 30 Tage Arrest kassiert.

Viele Russen fühlen sich bei wichtigen Entscheidungen übergangen, wie eine Befragung des Umfrageinstituts Lewada unlängst ergab. In ganz Russland gibt es oft Fälle, bei denen umstrittene Gesetze oder auch Bauvorhaben quasi ohne Bürgerbeteiligung einfach durchgedrückt werden.

In Jekaterinburg am Ural setzen sich die Bewohner wegen eines Kirchenbaus gegen die einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche zur Wehr. Dann gehen die Menschen für den zu Unrecht festgenommenen Journalisten Iwan Golunow auf die Straße – mit Erfolg. Er kam frei.

„Die Menschen merken, sie können auf lokaler Ebene durchaus etwas erreichen“, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja der Deutschen Presse-Agentur. „Deswegen will und kann der Kreml kein Fenster für die Opposition aufmachen.“ Im Machtzentrum Moskau müsse er hart durchgreifen, bevor die Büchse der Pandora geöffnet werde.

Präsident Wladimir Putin kommentierte die Lage nicht. Sein Statthalter Sobjanin kommentierte die Lage vor seinem Büro mit wenigen Sätzen auf Twitter: „Das alles führt zu nichts Gutem.“