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Sozialleistung Ausmaße des Kindergeldbetrugs in Deutschland

Kindergeldbetrügsfälle scheinen sich zu häufen, doch sind nicht flächendeckend, wie Zahlen und Fakten aufzeigen.

10.08.2018, 10:32

Berlin (dpa) l Eine Reihe deutscher Städte wie Fürth, Bremerhaven oder Duisburg beklagt Probleme mit Betrugsfällen beim Kindergeld. Doch Karsten Bunk, Leiter der zuständigen Familienkasse bei der Bundesagentur für Arbeit (BA), betont: "Natürlich gibt es Missbrauchsfälle, aber man muss bei der Diskussion aufpassen, dass das nicht zu einseitig instrumentalisiert wird." Zahlen und Fakten zur Debatte:

Wie viele Kinder beziehen Kindergeld in oder aus Deutschland?
Ende Juni waren es 15,29 Millionen. 12,27 Millionen dieser Kinder haben die deutsche Staatsbürgerschaft, rund drei Millionen sind Ausländer. Die allermeisten von ihnen leben in Deutschland. 268.336 Kinder beziehen im europäischen Ausland Kindergeld vom deutschen Staat. Darunter sind aber auch 31.512 Kinder mit deutschem Pass, etwa weil ihre Eltern für einen deutschen Arbeitgeber im Ausland arbeiten.

Woher stammen die meisten ausländischen Kinder?
Unter den EU-Ausländern, die Kindergeld aus oder in Deutschland bekommen, liegt Polen mit 277.551 Empfängern vorn, aus Rumänien sind es 138.217. Den Spitzenplatz nehmen Kinder türkischer Herkunft ein – mit 587.393 Empfängern. 2017 flossen insgesamt 35,9 Milliarden Euro Kindergeld, davon 7,2 Milliarden Euro an Kinder ausländischer Herkunft.

Wie viel Kindergeld wird überhaupt gezahlt?
In Deutschland gibt es derzeit für das erste und zweite Kind jeweils 194 Euro im Monat. Für das dritte sind es 200 Euro, ab dem vierten Kind 225 Euro. Zum Vergleich: In Bulgarien gibt es rund 20, in Rumänien 18 bis 43 Euro im Monat.

Ist die Zahl ausländischer Empfänger angestiegen?
Ja. Seit Ende 2017 ist die Zahl der Kinder, die außerhalb Deutschlands in der EU oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben und Kindergeld aus Deutschland bekommen, um 10,4 Prozent gewachsen. Aber auch die Zahl der Empfänger im Inland steigt. Vor fünf Jahren gab es erst rund 2,1 Millionen ausländische Kindergeldempfänger hierzulande.

Woran liegt das?
Das hängt vor allem mit der europäischen Freizügigkeit zusammen. Auch werden immer mehr Fach- und Pflegekräfte aus anderen Ländern gebraucht. Und auch der Brexit, also der geplante EU-Austritt Großbritanniens, führt zu einer Verlagerung von Arbeitskräften Richtung Deutschland. Die Menschen zahlen dann hier Sozialbeiträge. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus Osteuropa ist von 2015 bis 2017 um 295 000 auf knapp 1,2 Millionen gestiegen.

Warum dann die Aufregung?
Weil es gerade aus Rumänien und Bulgarien nach Meinung mehrerer Oberbürgermeister eine verstärkte Migration gibt, um Kindergeld zu kassieren. Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) sieht Schlepper am Werk, die Menschen in schrottreifen Wohnungen unterbringen, ihnen eine Scheinbeschäftigung verschaffen und oft einen Teil der Kindergelder einkassieren. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma, warnt vor Stimmungsmache und betont: "Die betroffenen Familien sind die Opfer von kriminellen Banden, deren Hintermänner in der Regel deutsche Staatsbürger sind."

Wie groß ist das Ausmaß des Betrugs?
Die Familienkasse betont, es gebe keinen flächendeckenden Betrug. Stichproben ergaben einzelne Missbrauchsfälle vor allem in Nordrhein-Westfalen. Beim Kindergeld für Personen, die aus dem Ausland kommen, um hier zu arbeiten, deren Kinder aber in der Heimat geblieben sind, "findet so gut wie kein Missbrauch statt".

Schlaglicht Duisburg: Wie ist die Lage dort und was tut die Stadt?
In der Revierstadt leben besonders viele Zuwanderer aus Südosteuropa, aktuell sind es knapp über 19.000. Viele von ihnen wohnen in völlig heruntergekommenen Häusern. Bereits seit 2014 ist die "Task Force Problemimmobilien" im Einsatz. Im September 2016 hatte die Verwaltung 120 sogenannte Problemhäuser identifiziert, in denen die Eigentümer Wohnungen mit erheblichen Mängeln zu überhöhten Mieten an Zuwanderer vermieten. Durch das seit 2014 in Nordrhein-Westfalen geltende Wohnungsaufsichtsgesetz konnte die Stadt die Vermieter zwingen, die Häuser herzurichten, Bußgelder verhängen oder die Häuser für unbewohnbar erklären.

Wie sieht es heute in Duisburg aus?
Inzwischen stehen noch 53 Häuser mit Mängeln wie Schimmel, unhaltbaren hygienischen Zuständen, mangelhafter Elektronik und Vermüllung auf der Liste. Seit Herbst 2017 wurden 37 Häuser begutachtet. 30 davon schloss die Stadt komplett, fünf teilweise. Mit Landesmitteln können die Kommunen in NRW auch Schrottimmobilien aufkaufen, die missbräuchlich vermietet werden. In den Stadtteilen Marxloh und Hochfeld will die Stadt das jetzt umsetzen. In Marxloh hat die städtische Wohnungsbaugesellschaft das erste Haus übernommen.

Wie ist die Lage in anderen Städten im Ruhrgebiet?
Ähnlich wie in Duisburg haben auch andere Revierstädte wie Gelsenkirchen, Dortmund oder Hagen auf die Zuwanderung reagiert und Arbeitsgruppen aus Verwaltung, Polizei und Justiz gebildet. Auch in Gelsenkirchen schaut eine Arbeitsgruppe der Verwaltung genau hin und prüft Hinweise auf Missbrauch. "Wir schauen, wer ist wo gemeldet, bezieht Kindergeld und das vielleicht mit auffälligen Papieren", erklärt Stadtsprecher Martin Schulmann. In Dortmund hatte die Verwaltung 2017 für die Nordstadt 85 "Problemimmobilien" ausgemacht. Ein erstes Haus wurde aufgekauft, bei drei weiteren läuft die Vorbereitung.

Gibt es bundesweite Zahlen zum Missbrauch beim Kindergeld?
Nein. Auf eine AfD-Anfrage antwortete die Bundesregierung im März: "Die gewünschten Zahlen können nicht genannt werden, da eine Statistik über Missbrauchsfälle beim Kindergeld nicht existiert."

Was will die Bundesregierung tun?
Neben mehr Datenabgleich und dem Aufspüren von Betrug etwa durch gefälschte Geburtsurkunden für Kinder, die gar nicht existieren, will die Koalition von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seit Jahren die steigenden Kosten von mehreren hundert Millionen Euro im Jahr für im Ausland lebende Kinder dämpfen. Und zwar durch eine sogenannte Indexierung, also eine Zahlung, die sich an den Lebenshaltungskosten in dem jeweiligen Land orientiert. Österreich plant das in einem nationalen Alleingang.

Warum ist das umstritten?
Die EU-Kommission sieht dadurch einen Verstoß gegen das EU-weite Diskriminierungsverbot. "Wenn ein Arbeitnehmer in ein nationales Sozialversicherungssystem einzahlt, sollte er die gleichen Leistungen erhalten wie jeder andere, der einzahlt – unabhängig von seiner Nationalität und vom Wohnort seiner Kinder", sagt eine Sprecherin.