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Wiedervereinigung 30 Jahre Einheit: Zunehmende Annäherung

Erst wurde die alte BRD konserviert. Jetzt beschleunigt sich der Einheitsprozess.

Von Alois Kösters 02.10.2020, 01:01

Magdeburg/Berlin l Bürger gehen auf die Straße, ermächtigen sich selbst und erklären sich zum Souverän. Und dann verzwergt sich alles zur Einwanderung in die BRD. Kein Wunder, dass es länger dauert mit der Einheit. Aber  seit einigen Jahren beschleunigt sich die Entwicklung. Erst nach der Wiedervereinigung dämmerte es den Siegern der Geschichte in Ost und West: Die BRD war keine DDR mit freien Wahlen und mehr Konsum. Die DDR war keine BRD im Dornröschenschlaf. Und bis heute kennen wir die unterschiedlichen Farbschattierungen in Themengrafiken zur Wirtschaftsentwicklung, Vermögensverteilung, Demografie, Sterblichkeit, Wahlverhalten. Aber die Kontraste nehmen ab.

Die ersten Jahre der wirtschaftlichen, politischen, und kulturellen Entwicklung Gesamtdeutschlands fanden fast ohne den Osten statt. Die BRD wurde von ihren Eliten implementiert und empfahl sich als Einwanderungsland für den Ost-Bürger.

Dass die Wiedervereinigung vor diesem Hintergrund nicht noch konfliktreicher verlaufen ist, lag nur daran, dass die Bewohner der DDR besser über Westdeutschland Bescheid wussten als die Brüder und Schwestern im Westen. Die glanzvolle Projektion auf den Westen und die Sehnsucht nach staatlicher Souveränität hielt den Gedanken an ein wiedervereinigtes Deutschland wach. Im Westen war die DDR tristes Ausland. Im Atlas ein mager gedruckter Umriss neben einer fetten BRD. Viele Fehler während des Einheitsprozesses erklären sich so.

Es ist vielleicht kein Wunder, dass die großen Unterschiede, die zweifellos vorhanden waren, bis heute eher im Westen gesucht werden. Das unterschiedliche Wahlverhalten, das die Ost-West-Grafik wieder deutlicher konturiert hat, ist ein gutes Beispiel. „Warum wählt der Osten anders?“, heißt es in den Talkshows. Weniger Grün und mehr Blau. Und schnell ist die Rede von Wendeverlierern und dem ultra-rechten Osten. Schaut man genauer hin, stellt sich heraus, dass das Wahlverhalten der Milieus in Ost und West fast übereinstimmt. Der Osten hat im Verhältnis eben mehr ältere, männliche Landbewohner und weniger Großstädter mit Migrationshintergrund.

Dass Bundesparteien überdies unfähig zu der Erkenntnis waren, dass für viele ehemaligen Bürger der sowjet-gesteuerten DDR staatliche Souveränität und individuelle Freiheit eine größere Rolle spielen als europäische Einheit und Klima- oder Gendergerechtigkeit, zeigt ihre West-Orientierung bis heute. Das scheint sich ein wenig zu ändern.

Und es gibt Unterschiede, die werden bleiben, solange Grafiken Bundesländer unter „Neue Bundesländer“ zusammenfassen. Die größeren, bevölkerungsarmen agrarisch geprägten Flächen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder Brandenburg, wo weniger Wertschöpfung stattfindet, gab es immer und wird es (hoffentlich) immer geben.

Alles andere verändert sich immer schneller. Ost und West bewegen sich aufeinander zu. Leuchttürme im Osten sind entstanden. West-Regionen sind im Niedergang. Alte Industrien verlieren, die Digitalisierung eröffnet ein neues Spiel um Prosperität von Regionen. Corona könnte diese Entwicklung beschleunigen.

Zuwanderung und Binnenwanderung nivellieren Gegensätze. Die historische und kulturelle Bedeutung von Mitteldeutschland bekommt wieder ihren Platz in einer gesamtdeutschen Geschichte. Stadt und Land entwickeln mittlerweile größere Gegensätze als Ost und West. Die Identifizierung mit der Heimatregion löst die Sehnsucht nach staatlicher Gemeinschaft ab. Die Verlierer der Einheit verlieren sich.

Bis zum 50. Jahrestag der Einheit wird es kaum noch Themengrafiken mit Ost-West-Achse geben. Deutschland wird ein bunter Flickenteppich. Der Osten wird diesmal tüchtig daran mitweben.