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Training US-Teenager werden auf Amokläufe vorbereitet

Wie man bei Amokläufen in Schulen reagieren soll, lernen in den USA oft schon Erstklässler. Vier Jugendliche berichten.

22.11.2018, 09:33

Rockville (dpa) l An einem dieser unglaublich strahlenden Tage, die Maryland zu bieten hat, flattern weiße T-Shirts vor der Richard-Montgomery High School in Rockville. Dutzende von ihnen säumen, in langer Reihe, den Zaun des Footballfeldes wie in einer Waschmittelreklame. Auf ihnen die Namen all der Schüler, die bis zu der Aktion im Mai 2018 in den USA Opfer von Waffengewalt an Schulen wurden. Bis Mitte November gab es dabei – so zeigen die Zahlen einer Hochschule – 54 Tote und 105 Verletzte, Täter inklusive. Danach war es das bislang tödlichste Jahr an US-Schulen.

Schule als Ort des Lernens und Wachsens? Ja. Eigentlich. Für nicht wenige junge US-Amerikaner ist Schule aber auch ein Ort, der das Versprechen, sie geschützt wachsen zu lassen, nicht erfüllt. Zeitweise reihten sich dieses Jahres die Amokläufe sogar im Wochenrhythmus aneinander.

Zum Vergleich: An deutschen Schulen gab es, wie Experten rechnen, in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Schnitt eine Tat pro Jahr. Seit der Jahrtausendwende starben dabei etwa drei Dutzend Menschen. Deutschland liegt damit zwar deutlich hinter den USA, aber doch auf einem Platz weit oben.

Erfurt, Emsdetten und Winnenden haben sich als Ortsnamen ins Gedächtnis gebrannt. Ein verbindliches Risikomanagement gibt es jedoch bis heute nicht: Jedes Bundesland, jede Stadt und letztlich jede Schule schaut, was sie tun – und was sie sich leisten – kann.

Alarmübungen, Kameras, sichere Drehknöpfe statt Klinken an den Türen oder Amokknöpfe unter dem Lehrertisch. Das Spektrum ist breit und wirkt oft eher unsortiert.

Im besten Fall verfügt eine Schule über ein Gefahrenprofil, das ein Risikomanager für sie erstellt hat. Oder sie hat einen geschulten Lehrer als Spezialisten zur Früherkennung möglicher Täter. Ersteres haben jedoch nur die wenigsten der rund 33 500 Schulen bundesweit. An der Berliner Freien Universität wurde zudem NETWASS, ein Programm zur Früherkennung von Gewalt initiiert, damit mögliche Täter im Vorfeld abgebremst werden. Doch auch an NETWASS – also dem Network Against School Shootings – nehmen gerade mal mehr als 100 Schulen teil.

In den USA ist das Thema allgegenwärtig. Die 15- bis 19-Jährigen, die die Richard-Montgomery High School nordwestlich der Hauptstadt Washington D.C. besuchen, kommen aus 80 Nationen. Fast 2500 Schüler lernen hier, in einem bunkerartigen Bau mit Fenstern klein wie Schießscharten. Eigentlich ist die Stimmung gut. Doch das Entsetzen über Gewaltvorfälle erfasst auch diese Teenager. Die T-Shirt-Aktion im Mai war ein Versuch, mit einer Bedrohung umzugehen, die gefühlt immer näher rückt.

So war ein paar Wochen davor an einer benachbarten High School ein Teenager mit einer halbautomatischen 9-Millimeter-Pistole im Schulrucksack erwischt worden. Der 18-jährige Vorzeigeschüler kommt aus einem Haushalt mit zahlreichen Waffen. Der Vater lagerte sie im verschlossenen Schrank. Passiert war letztlich nichts. Doch die Unsicherheit wächst.

Rückblende: 2016 gab es an der Richard-Montgomery High School und anderen Schulen der Gegend einen Alarm. Ein Mann raste im Auto wenige Kilometer entfernt herum und erschoss Menschen. Über ein Alarmsystem sind Polizei, Schulen und Eltern via Handy vernetzt. "Code Red" summte und blinkte auf Tausenden Smartphones der Umgebung auf. Alle wussten: Es gab eine Bedrohung. Die Schulen mussten reagieren.

Manche entschieden sich für die "Shelter in Place"-Reaktion. Das heißt: Alle Schüler werden vom Flur in die Klassen geholt. Türen und Fenster werden verschlossen, die kleine Luke in der Tür abgedeckt. Im Klassenraum geht der Unterricht dann möglichst normal weiter.

Andere Schulen wählten eine zweite, schärfere Abwehrstufe: Sie riefen den kompletten Lock Down aus. Dabei versammeln sich die Kinder in der Ecke, die von der Tür am weitesten entfernt ist. Oder die Schüler von der Vorschule bis zur High School hocken die nächsten zwei Stunden unter ihren Tischen am Boden und warten ab.

Regelmäßige Trainings solcher Situationen gehören selbst in einer der liberalsten Gegenden der USA zum Alltag. Alle drei Monate wird die Amok-Katastrophe an der Richard-Montgomery Schule geübt, ebenso wie Tornado- oder Feueralarm.

Seit 2018 gehört jedoch für viele Heranwachsende auch ein neuer Aspekt zum Alltag: sich aus der Wehrlosigkeit zu befreien und der Spaltung der Gesellschaft etwas entgegensetzen zu wollen. Den Anstoß dazu hatte das Schulmassaker von Parkland im US-Bundesstaat Florida im Februar gegeben. Später gingen Hunderttausende junge Leute auf die Straße gegen Waffengewalt und für strengere Waffengesetze.

Vier Momentaufnahmen, wie Schüler und Schülerinnen ihre Welt seither sehen.

Lauren Bushey, 17 Jahre, Senior/12. Klasse:

"An einem Tag habe ich tatsächlich richtig Angst gehabt. Das war kurz nach dem Attentat in Parkland. Und es kursierten Gerüchte, dass auf Instagram jemand etwas Ähnliches an unserer Schule angekündigt hätte. Anders als andere hatten wir Glück – es war nur ein Gerücht.

Insgesamt ist die Politik total in den Vordergrund gerückt. Ich bin zwar kein superpolitischer Mensch, und trotzdem. Unsere Schule ist liberal. Da sieht man nicht viele Trump-Fans, die sich zeigen. Aber in den Familien und unter Freunden ist der Riss riesengroß. Auch ich kenne Menschen, die Trump gewählt haben. Und ich liebe einige dieser Menschen. Ich finde es schwer, damit umzugehen.

Klar, ich bin auch mit den anderen Schülern nach D.C. gegangen, um gegen Waffengewalt zu protestieren. Aber, ernsthaft: Was bringt das wirklich? Ich selbst kann noch nicht wählen. Sobald ich wählen kann, möchte ich mir deshalb genau anschauen, wem ich meine Stimme gebe. Denn ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, Lehrer mit Waffen auszustatten.

Aber ich mag niemanden wählen aus den beiden großen Parteien. In den USA gibt es im Augenblick nur dieses Entweder-Oder. Ich möchte mich auch anders entscheiden können.

Grundsätzlich bin ich gerne Amerikanerin, ich finde, es ist ein großes Privileg. Mein Vater ist bei der Armee, ich bin sogar ziemlich patriotisch. (...)

Was das Waffenthema angeht, da verstehe ich nicht so ganz, was das Problem daran ist. Ich meine, unsere Verfassung ist vor langer Zeit gemacht worden, und zwar von weißen Männern. Damals gab es noch Sklaverei und keinerlei Frauenrechte. All das konnte man ändern. Warum dann nicht das 2. Amendment zum Waffenbesitz? Ich meine: Hier brauchen wir positive Bewegung. Das Alkoholverbot wieder aufzuheben, war doch auch kein Problem, oder?"

Anand Chitnis, 15 Jahre, Freshman/9. Klasse:

"Anfang dieses Jahres hab' ich auf einmal die Nachrichten-Apps auf meinem Smartphone angestellt. Ich hab gemerkt, dass mich Politik interessiert. Und dass sie mich ganz konkret was angeht. Mit einem Schlag ist mir bewusst geworden, wie riesig dieser Abstand zwischen Demokraten und Konservativen in den USA geworden ist. Aber auch, dass es total wichtig ist, alle Standpunkte zu kennen und zu hören. Ich habe das Gefühl, dass beide Seiten wie benebelt sind und nur noch ihre eigenen Meinungen hören.

An unserer Schule und auch im ganzen Bezirk haben sich viele junge Leute zusammengetan, um aktiv zu werden. Wir organisieren Walk Outs, Telefonaktionen, wenden uns an die Abgeordneten im Kongress und auch hier im Bezirk und in Maryland.

Manchmal streiten wir uns darüber, was Sinn macht. Eine Freundin von mir beispielsweise glaubt nicht, dass diese Aktionen irgendetwas nützen. Aber wir müssen doch wenigstens ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Politiker diese Veränderungen bewirken müssen, oder? Ich meine, mir ist vollkommen klar, dass man nicht heute zum Protestmarsch geht, und morgen ist auf magische Weise ein neues Gesetz da, dass die Forderungen erfüllt.

Mittlerweile haben wir auch den Schulleiter auf unserer Seite. Am Anfang war er sehr zögerlich – und ich weiß, dass Lehrer sich nicht politisch äußern dürfen oder Position beziehen. Aber er ist schließlich auch Vater von Kindern. Und irgendwann hat er angefangen, uns zu unterstützen und vieles zu ermöglichen. So auch die Aktion mit den weißen T-Shirts.

Ich glaube eigentlich nicht, dass an unserer Schule so ein Shooting passieren wird. Aber da ist doch immer dieses Schild im Kopf, auf dem steht: Was, wenn doch?

Deshalb ist es wichtig, diese Fragen auch in der Schule zu diskutieren, im Unterricht. Also Reden nicht nur als Theorie und in der Geschichte, sondern auch über aktuelle Sachen."

Tanya Kibyi, 16 Jahre, Sophomore/10. Klasse:

"Ich bin vor acht Jahren aus Kenia in die USA gekommen. Die furchtbaren Ereignisse der letzten Monate haben mich deshalb besonders getroffen. Als Schülerin und als Migrantin. Ich bin ein vorsichtigerer und ängstlicherer Mensch geworden.

Als meine Mutter mich zu sich in die USA nachholte, haben wir zuerst in Durham, einer Kleinstadt in North Carolina, gewohnt. Dort passierte eigentlich nicht viel Schlimmes, aber es gab nicht viele Schwarze. Das war nicht ganz einfach. Viele haben sich über meinen britischen Akzent aus Nairobi lustig gemacht. Und in der 5. Klasse passierte dann tatsächlich ein Shooting, fünf Minuten von unserer Grundschule entfernt. Wir saßen zwei Stunden im Lock Down und ich erinnere mich, dass ich furchtbare Angst hatte.

Jetzt sind wir seit drei Jahren in Rockville. Hier ist es diverser und deshalb einfacher für meine Mutter, meine kleine Schwester und mich. Trotzdem mache ich mir Sorgen wegen der Schul-Schießereien. Ich weiß einfach nicht, was in den nächsten Wochen oder Monaten passieren wird.

Auf einem Protestmarsch war ich noch nicht. Eigentlich würde ich gerne mal teilnehmen. Ich finde es gut, wenn man für seine Überzeugungen auf die Straße geht. Aber ich muss oft auf meine kleine Schwester aufpassen, wenn meine Mutter arbeitet.

Ich bin die Erste aus meiner Familie, die Amerikanerin geworden ist. Eigentlich heißt das für mich, dass ich die Freiheit habe mich auszudrücken und meine Meinung zu sagen. Und dass mir meine Bürgerrechte nicht einfach weggenommen werden dürfen. Aber trotzdem fühle ich mich gerade vor allem als Immigrantin, weil ich aus einem anderen Land komme.

Die USA sind nicht das Land, das ich mir vorgestellt hatte. Ich dachte, die USA seien ein Land voller Hoffnung. Aber hier passieren ständig unschuldigen Leuten schlimme Dinge. Wenn sich das ändert, verändert sich vielleicht auch meine Einstellung zu Amerika wieder. Im Moment ist es nicht das Land, in dem ich auf Dauer leben möchte."

Noah Mack, 16 Jahre, Sophomore/10. Klasse:

"Für mich waren die letzten Monate wirklich eine Herausforderung: Ich bin ein Homeschooler – das heißt, ich gehe nicht zur Schule, sondern werde genauso wie meine vier Geschwister von meiner Mutter zu Hause unterrichtet. Viele Homeschooler sind eher konservativ. Mein Vater ist Militärgeistlicher, wir sind sehr gläubige Christen. Ein Teil unserer Freunde hat Trump gewählt, andere haben traditionellere Republikaner unterstützt. Dass es verschiedene politische Meinungen gibt, ist großartig, sogar absolut notwendig. Aber wenn ein Teil der Gleichaltrigen um mich herum jemanden unterstützt, der meine Bedürfnisse mit Füßen tritt, kann er dann noch mein Freund sein?

Bisher hat unser Präsident keinerlei Absichten gezeigt, Menschen anderer Hautfarben zu unterstützen. (...) Ich habe viele Freunde verloren, weil sie Trump unterstützen und nicht sehen, dass sie mir damit Unterstützung verweigern.

Die Schulgewalt ist nicht nur fürchterlich durch den Tod, den emotionalen Stress und die Hoffnungslosigkeit, die sie verbreitet. Wie sollen Kinder überhaupt lernen, wenn sie sich nicht sicher fühlen? Ich gehe zwar nicht zur Schule, aber bin durch die Gewaltbereitschaft trotzdem betroffen. Politiker können nicht jedes Shooting verhindern, aber sie können Programme zur Vorbeugung durchsetzen. Mehr Waffen werden da überhaupt nichts ändern.

Amerikaner zu sein, heißt für mich, verschiedene Religionen und Herkünfte zu akzeptieren. So ist Amerika entstanden – als ein Land von Immigranten. Wir sollten alle noch wesentlich toleranter sein."