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Neue Baustoffe Straßen aus Müllschlacke?

Verbrannter Müll wird gereinigt, dennoch wandern etwa 80 Prozent davon auf die Deponie. Pure Verschwendung, sagt die Wirtschaft.

Von Jens Schmidt 07.03.2018, 00:01

Magdeburg l Jedes Jahr speien Sachsen-Anhalts Müllöfen 750.000 Tonnen Schlacke aus. Das aufbereitete Material würde reichen, um einen 75 Kilometer langen Autobahndamm zu bauen. Für drei Spuren mit Standstreifen. Würde man es denn für den Straßenbau einsetzen.

Würde. Könnte. Der größte Teil der Schlacke wird meist auf Deponien gekippt. Zugleich fressen Bagger riesige Löcher in die Landschaft und buddeln Millionen Tonnen Kiese und Sande aus der Erde. Ein Großteil des wertvollen Naturstoffs geht auch in den Unterbau von Straßen – er wird regelrecht begraben.

Geht das nicht anders? Bislang senken die Behörden die Daumen. Recycelte Müllschlacke kommt ihnen nicht in die Straße.

Umweltministerium und Abfallwirtschaft erarbeiten nun einen Leitfaden, um den Unternehmen Wege zu zeigen, damit aus Abfall doch noch ein anerkannter Recyclingbaustoff werden kann. Beide Seiten haben ein hohes Interesse an der Verwertung – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Ministerin Claudia Dalbert (Grüne) will die Zahl der Deponien begrenzen. Die Unternehmen wiederum wollen das Material gern vermarkten, denn: Deponieren wird immer teurer. Die Preise für eine Tonne sind schon von 6 auf über 20 Euro gestiegen.

Betonbruch und Asphalt verschlissener Pisten werden schon oft für den Straßenbau verwendet. Müllofenschlacke noch nicht. Doch die Schlacke-Aufbereiter geben nicht auf. Zu ihnen zählt die MDSU in Reesen. Die Firma bei Burg treibt einen besonders hohen Aufwand: Sie wäscht die Schlacke. Seit einem Jahr läuft der kontinuierliche Betrieb.

Alle paar Minuten kippt ein Laster eine Ladung ab. Laut zischt und rasselt die grau-schwarze Masse auf den Betonboden. Mit Asche hat das wenig zu tun. Verbogene Löffel, zerbeulte Töpfe, Stahlfedern, Kronkorken, Rohre. Längst nicht alles ist zerbröselt und verbrannt. Aus einem der Haufen sieht André Hartl einen angeschmolzenen Golfschläger. „In der Rohschlacke ist noch jede Menge drin“, sagt Hartl. Er ist Geschäftsführer der MDSU. Die Müllöfen speien auch viel Halbverdautes aus. Zumal die Leute alles Mögliche in die Tonnen schmeißen.

Ist das Gröbste weg, schaufelt ein Arbeiter mit einem Radlader die Schlacke auf ein Förderband. Das graue Gemisch rattert weiter – in die Wäsche. Nun werden auch feinste Teile von Angebackenem befreit. Magnete ziehen Eisenstücke heraus. Am Wirbelstromabscheider fliegen Nicheisenmetalle wie Alu und Kupfer in einen Behälter. Ein Gebläse pustet noch leichtere Plastikteilchen heraus. Am Ende der Kette stehen Arbeiter, die per Hand herausholen, was die Technik bislang nicht geschafft hat. Folienreste, selbst Papierfetzen sind dabei, die den Müllofen überlebt hatten.

Außerhalb der Halle türmen sich Berge mit gewaschener Schlacke. Hartl greift mit beiden Händen hinein und hält grauen, nassglänzenden Kies in die Kamera: „Das ist kein Müll, das ist Recyclingbaustoff“, sagt er. „Ein Frevel, solches Material auf die Deponie zu bringen.“

Hartl versichert: Trotz des hohen Aufwands läge sein Preis für eine Tonne Schlackenkies samt Transport 5 Euro unter dem vom Natur-Kies. Dennoch sei man rentabel. Möglich ist das auch, weil MDSU gute Geschäfte mit dem herausgefilterten Metall macht: Da das Material sehr sauber ist, zahlt die Stahlindustrie gut.

Durch die Nasswäsche holt die MDSU 85 Prozent brauchbares Material aus der Ofenschlacke. Im Jahr etwa 300 000 Tonnen. Bis Mitte des Jahres baut die Neumann-Gruppe, zu der die MDSU gehört, im Magdeburger Hafen einen eigenen Umschlagplatz. Dann sollen große Ladungen aufs Binnenschiff. Eines der Ziele: Amsterdam. Die Holländer nutzen schon nassgereinigte Schlacke. Etwa für Betonpflaster im Straßenbau. Die Deutschen sind zögerlich. Das Metarial wird bisher nur im Industriebau eingesetzt. „Wir müssen noch Überzeugungsarbeit leisten“, sagt Hartl.

Straßenbauern geht es um knallharte Tests. Seitdem Betonkrebs mitteldeutsche Autobahnen zerfrisst, umso mehr. Verbaut wird nur das, was zuvor eine strenge Prüfung bestanden hat. Durchleuchtet werden die Baustoffe von Prüflaboren – landesweit fünf stehen beim Verkehrsministerium unter Vertrag. Jeder, der beim Straßenbaugeschäft mitmischen will, muss regelmäßig Proben abliefern. Nur, wer den Härtetest besteht, kommt auf eine Liste der Landesstraßenbaubehörde. Nur wer auf der Liste steht, hat eine Chance, einen Auftrag zu bekommen.

Geschafft haben es viele Kies- und Sandgruben. Ein Schlackereiniger noch nicht. Auch nicht der Nass-Aufbereiter MDSU. Etliche Proben hat das Unternehmen schon untersuchen lassen. Das Material ist immer besser geworden. Doch noch nicht perfekt.

Was genau geprüft wird, steht in den „TL Gestein“. „TL“ steht für „Technische Lieferbedingungen“. Der Text ist so eine Art Bibel für Straßenbauer und Materialprüfer.

Erstes Gebot: Der Baustoff muss chemisch stabil sein. Es dürfen keine Gifte ins Grundwasser sickern oder in die Luft gasen.

Zweite Vorgabe: Das Material muss mechanisch taugen. Es geht um den richtigen Mix aus grober und feiner Körnung. Zu Feines ist frostanfällig. Zu Grobes bekommt die Walze nicht verdichtet. Der Reesener Schlacke fehlte es zunächst an Feinem: Mittlerweile wird Natursand dazugegeben.

Geprüft werden zudem Steinkornform (kantig besser als rund), Kornhärte (das Material wird mit dem Hammer bearbeitet), Winterfestigkeit (auch nach zehn Frost-Tau-Wechseln darf nichts zerbröseln), Wassergehalt (es darf im Sommer nicht zerstauben und bei Dauerregen nicht zu Brei werden) sowie Zusammensetzung (der Anteil unverbrannter Reste muss unter 0,5 Prozent liegen).

Drittes und strengstes Gebot: Das Material darf weder sacken noch sich aufblähen. Andernfalls würde die Fahrbahn reißen. Fachleute sprechen von „Raumbeständigkeit“. Stecken in einer Schlacke etwa zu viele unverbrannte Reste, verrotten sie im Laufe der Jahre und der Damm senkt sich. Steckt etwa zu viel Aluminium darin, kann sich der Damm heben. Da immer mehr Aluverpackungen in den Müll wandern, stellt das an Schlackereiniger höchste Anforderungen.

Zunächst erfolgt ein Volumentest. In 30 Tagen darf sich die Probe nur geringstfügig heben oder senken. Weniger als drei Tausendstel sind vorgeschrieben.

Bis hierhin hat die Reesener Schlacke alle Hürden genommen.

Nun folgt die letzte Prüfung. Das Material wird geröntgt. Dabei wird der Anteil an Calciten und Anhydriten ermittelt. Beide Stoffe sind meist recht reaktionsfreudig. Genau über diese letzte Hürde ist auch die nassgereinigte Schlacke noch nicht gekommen.

Doch wenn ein Material 30 oder gar 120 Tage stabil bleibt – wozu dann noch der Calcit-Test? „Wenn Calcite und Anhydrite einen kritischen Wert erreichen, kann daraus Gips entstehen“ erklärt Dieko Dinkgraeve. Und Gips quillt auf. Dinkgraeve gehört zu den Bibelschreibern; der Bauprüfer aus Bergisch Gladbach und weitere Forscher bestimmen maßgeblich die Prüfordnung der „TL Gestein“.

Kann man die Störenfriede nicht herausbekommen? Selbst mit einer noch so guten Schlackenwäsche gelingt das nicht, erklärt Dinkgraeve. Gibt es nicht irgendein chemisches Mittelchen, um die Stoffe zu neutralisieren? Dinkgraeve: „Wenn ich das hätte, wäre ich Millionär.“

Unter den Experten wachsen allerdings Zweifel, ob die Vorgaben so noch haltbar sind. Denn bei Schlacken fiel schon auf: Manche sind tagelang stabil – fallen aber beim Röntgentest durch. Bei anderen Proben war es umgekehrt. „Ich weiß, dass es diese Probleme gibt“, sagt Dinkgraeve. Er stellt derzeit ein Expertenteam zusammen, um die „Bibel“ an dieser Stelle zu überprüfen. Fällt das Röntgen vielleicht weg – sofern die Schlacke tagelang stabil war? Möglicherweise wird die Vorgabe geändert. Zugunsten der Schlacke. Möglicherweise.

Doch so lange es nicht so weit ist, zeigen sich Sachsen-Anhalts Labore und Straßenbauer hart. „So lange die Schlacke nicht alle Vorgaben perfekt erfüllt, brauche ich damit gar nicht erst beim Langkammer ankommen“, sagt ein Prüfingenieur.

Uwe Langkammer ist der Chef von Sachsen-Anhalts Landesstraßenbaubehörde. „Volkswirtschaftlich ist das ja alles nachvollziehbar“, räumt er ein. Der wertvolle Naturkies käme in den Beton, die gereinigte Schlacke in den Unterbau. „Aber die Qualitäten müssen stimmen.“ Da gewährt er keine Gnade. „Wir bauen schließlich keine Feldwege.“