Ost-Wirtschaft Es stockt seit 15 Jahren

Seit Jahren tritt die Ost-West-Aufholjagd auf der Stelle. Niedriglöhne, Elitemangel und fehlender unternehmerischer Wille sind schuld.

20.10.2016, 23:01

Bad Saarow (dpa/sj) l Der Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft tritt nach den Worten des Wirtschaftswissenschaftlers Joachim Ragnitz seit 15 Jahren auf der Stelle. „Es ist nicht alles so toll, wie man es sich wünschen würde“, sagte der Leiter der Dresdner Niederlassung des Ifo-Instituts am Donnerstag in Bad Saarow bei Berlin beim ersten Ostdeutschen Wirtschaftsforum.

Die Lücke zum Westen betrage etwa 30 Prozent. Damit dürfe man sich nicht abfinden. Als eine der Ursachen nannte er einen fehlenden Wachstumswillen in vielen Unternehmen. Dies sei nur über Generationen zu lösen. Zudem treffe die Abwanderung junger Fachkräfte den Osten hart. Es gebe einen Elitenmangel. Dies könne zwar durch Zuwanderung abgemildert werden – doch viele Ausländer wollten nicht in den Osten und viele Menschen im Osten seien gegen Zuwanderung, sagte Ragnitz. Es dürfe auch nicht allein um das Aufholen gehen, sondern vor allem um ein stärkeres Wirtschaftswachstum.

Auf der Tagung diskutieren rund 120 Unternehmer, Politiker und Experten bis zum heutigen Freitagabend über die Perspektiven des Ostens. Die Veranstaltung hat den Weltwirtschaftsgipfel im Schweizer Davos als Vorbild. Statt im Wintersportort findet die Tagung in der kleinen Kurstadt Bad Saarow östlich von Berlin statt. Es solle ein Gipfel zur strategischen Wirtschaftsentwicklung im Osten sein, sagte der Initiator und Herausgeber des Magazins „Wirtschaft+Markt“, Frank Nehring. Das Wirtschaftsforum versteht sich vor allem als Denkfabrik, die für folgende Fragen parteiübergreifend Lösungen und Denkanstöße präsentieren will: Wird der Angleichungsprozess an die alten Länder je gelingen? Wird Ostdeutschland auf Dauer nur eine verlängerte Werkbank sein? Wie viel Potenzial steckt im eher kleinteiligen ostdeutschen Mittelstand – wird er auf Dauer nur Nischen besetzen oder ist er Schmelztiegel für künftige Großkonzerne? Kann der Osten im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte angesichts niedrigerer Produktivität und geringerer Einkommen überhaupt mithalten?

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte als Gastredner, eine Ursache des schwachen Wachstums sei der Rückgang der Bevölkerung. Dies könne durch Zuwanderung ein Stück weit abgefedert werden, betonte Gabriel. „Dafür ist aber eine weltoffene Haltung wichtig.“ Bis 2030 könnte der Osten bis zu sieben Prozent seiner Einwohnerzahl verlieren. Der Staat müsse aber trotzdem die Infrastruktur aufrechterhalten. Kitas, Schulen und Krankenhäuser müssten bestehen bleiben.

Die Firmen im Osten müssten die Stärken der Region wie gute Ausbildung, bezahlbarer Wohnraum und hervorragende Kinderbetreuung stärker ausspielen. Große Chancen habe auch der Tourismus. Es sei ein Fehler gewesen, den Osten zum Experimentierfeld für niedrige Löhne zu machen, sagte Gabriel.

In den vergangenen Jahren war die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands insgesamt langsamer gestiegen als im Westen. Dadurch hat sich die Schere zwischen Ost und West weiter vergrößert. Nach dem jüngsten Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit lag die Wirtschaftskraft je Einwohner im Osten 2015 noch immer 27,5 Prozent unter dem Niveau in den alten Ländern.