Von Rolf-Dietmar Schmidt Bezahltag

08.09.2011, 04:27

Erwin verzog das Gesicht, als ob er gerade mit seinem kranken Zahn auf einen Stein gebissen hätte. "Das hat mir gerade noch gefehlt. Und Frieda wird mich wieder mit ihren großen fragenden Augen anschauen, als ob ich was dafür könnte", schimpfte der Endfünfziger vor sich hin, während er mit dem Kontoauszug hin und her wedelte. Als ob die Nullen nicht auch auf ein kleineres Blatt passen würden. Aber diesmal waren es nicht nur Nullen, sondern auch Zahlen, die aber dummerweise alle einen kleinen Strich vor der Summe hatten. Und dabei ratterte Erwin jeden Tag schon in aller Frühe mit seinem Wägelchen durch die Straßen, damit er dann pünktlich in der Schlosserei an seinem Arbeitsplatz das Material für die Kollegen vorbereiten kann. Trotzdem: Wieder Miese.

Während er noch vor sich hinbrummelte, kam er an Mathildes Drink-Eck vorbei. Über das Drink-Eck hatte er sich schon vor Monaten aufgeregt, aber Mathilde hatte gemeint, man müsse mit der Zeit gehen, und die Getränkestützpunkte seien nun ein für allemal vorbei.

Dort standen Günther, Heiner und Martin. Auf ihrem runden Stehtisch stapelten sich Dosen und Flaschen. Die Flaschen gehörten zu Heiner, denn der legte Wert auf den Erhalt der Natur und hatte für seine Kumpane nur das verächtliche Wort Dosenschlucker übrig. Heiner und die Dosenschlucker hatten Erwin längst entdeckt. "He, kommst ja schon wieder vom Malochen. Bei dir muss ja der Rubel rollen." Erwin schluckte. "Wäre ja nicht schlecht, aber wahrscheinlich sind es wirklich Rubel, denn für das, was ich verdiene, ist der Monat einfach viel zu lang."

"Meck’re nicht. Guck’ uns an", so Martin, "wir haben überhaupt keine Arbeit. Und das nur, weil du zu viel verdienst." "Was, ich?", staunte Erwin ungläubig, "Du hast wohl zu lange beim Arbeitsamt angestanden?" Darauf ließ er sich von Mathilde erst einmal eine Dose Bier reichen und nahm einen langen Schluck, um die Entrüstung runterzuspülen. "Wie kommst du denn auf solchen Quark?"

"Nix mit Quark", meinte Martin, "das habe ich in der Zeitung gelesen. Höhere Löhne vernichten Arbeitsplätze. Oder anders herum: Weniger Lohn schafft mehr Arbeit. Verstehst du?" Dabei legte er vertrauensvoll die Hand auf Erwins Arm. "Das richtet sich nicht gegen dich. Aber wenn du nicht so viel verdienen würdest, wäre mehr Arbeit da, und dann hätten wir einen Job. Begreifst du das?"

Erwin dachte an seinen Kontoauszug und ihm wurde schwindelig. Noch einen kräftigen Schluck, denn jetzt käme er sowieso zu spät zu Frieda.

"Also noch mal langsam", setzte er erneut an. "Wenn ich noch weniger verdiente, als jetzt ohnehin schon, dann würde mehr Arbeit entstehen und dann hättest du auch einen Job. Und wenn wir beide dann für noch weniger malochten, dann würde es wahrscheinlich auch für Günther und Heiner reichen, dann hätten die auch was zu tun. Das ist ja großartig, das ist ein Geniestreich. Für diesen Gedanken hast du eigentlich den Nobelpreis verdient. Überlege mal: Wenn man das konsequent zu Ende denkt, dann wäre der Idealzustand, dass alle komplett auf ihren Lohn verzichteten. Die Folge: Alle Menschen hätten Arbeit. Das wäre ja die Lösung aller Probleme!"

"Bezahlen ist angesagt." Die raue Stimme von Mathilde aus dem Drink-Eck riss Erwin zurück in die Wirklichkeit. "Nee", gab er zurück, "wir arbeiten nämlich jetzt kostenfrei, und zwar alle, und du bist mit deinem Drink-Eck dabei. Na dann, Prost!"