Bin ich ein Ohrwurm?
Hielten Sie sich stets für ein tolerantes und weltoffenes Geschöpf ? Wenigstens bis zu jener Sekunde, als Ihr Sprößling in die pubertäre Phase eintrat und Sie pausen- und gnadenlos mit ihrem Kleingeist konfrontierte ? Und jetzt sitzen Sie mit hängenden Schultern auf dem Sofa und lassen ihr spießiges Leben Revue passieren ? Das kenne ich.
Auch ich wähnte mich jahrzehntelang tolerant. Ein brutaler Irrtum – zumindest in den Augen des Stammhalters. " Wie klein dagegen und beschränkt ist so ein Ohrwurm, wenn er denkt ", philosophierte einst Wilhelm Busch. Und genau wie dieser Wurm fühlte auch ich mich plötzlich. Eng im Geist traktierte ich den Nachwuchs mit kleinkarierten Forderungen. Hilfe bei des Haushalts Pflege ? Begehbare Kinderzimmer ? Einkaufen ? Verantwortung für Hund und Katz ? Alles Firlefanz ! Die Eroberung der Welt stand für den Freigeist auf dem Plan, und nicht das Wurschteln im schnöden Alltag.
Mein Selbstbild ging in die Knie, dem Selbstbewusstsein fröstelte. Es haute ab, verschwand aus meinem Leben. Und ich war bar jeder Hoffnung auf ein Wiedersehen. Doch dann entschied sich unser jugendliches Glück für eine Ausbildung in rund 500 Kilometer Entfernung.
" Sollten wir nicht ", fing ich vorsichtig kurz vor der Abreise an, " ein paar Reingungsmittel mitnehmen ? Wer weiß, wie es im Wohnheim aussieht. " Der Student in spe schickte höhnische Blicke. " Oder vielleicht etwas Geschirr ?" Genervtes Stöhnen. " Werkzeug und ein paar Malersachen werden wir brauchen ", orakelte mein Mann. Das Kind rang nach Luft. Ein letzter Versuch : " Weißt du, als wir damals ins Wohnheim zogen ... " Das war zu viel, eindeutig. 1, 77 Meter Körperlänge machten auf dem Absatz kehrt und verließen wortlos den Raum.
48 Stunden später schoben wir in 500 Kilometer Entfernung schwere Einkaufswagen durch das Center. Auf dem Transportband landeten Reinigungsmittel, Pinsel, Farben, Töpfe, Teller, Tassen und Besteck. Unser Freigeist eilte durch die Gänge und schleppte immer neue Dinge an. Dinge, deren Existenz er früher verachtete. " Wo liegen denn die Duftsteine fürs Klo ?", wollte er wissen. Und Matratzenaufleger brauche er auch. " In dem Bett haben schon so viele andere geschlafen – da packe ich nicht mein Laken drauf, ist doch ekelig. " " Was ist denn das ?", fragte ich mit Blick auf einen im Wagen gelandeten waschbrettähnlichen Gegenstand. " Da stellt man schmutzige Schuhe drauf ", erklärte er. Aha. Kannte ich gar nicht. Neu war mir auch die Akribie, mit der unser Hoffnungsträger später die Durchsetzung des Reinigungs- und Renovierungsgeschehens koordinierte. Der Schweiß rann, der " Auftraggeber " war pingelig und unnachgiebig.
Nach dem sich anschließenden gemeinsamen Marathon durch die Lebensmittelabteilung (" Was denn, das bisschen hat so viel gekostet ?!") hatte ich nur noch einen lebenserhaltenden Wunsch : Durchstarten bis zur Couch. " Könntest du dir bitte vorher die Schuhe ausziehen ", bremste der Knabe mich scharf aus. Wie bitte ? Was war denn das eben ?
Aber jetzt kommt es ganz dicke : Unser kritischer Geist rief neulich an. Er wünsche sich zum Geburtstag Werkzeugkiste und Staubsauger. Werkzeug ? Staubsauger ? Noch vor Monaten hätte er mich mit selbigen Geschenken vermutlich erschlagen. Ich holte tief Luft und mir wurde klar : Ich bin kein beschränkter Ohrwurm ! Und siehe da – auch mein Selbstbewusstsein schaut schon um die Ecke.