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Helen Hessel war nicht nur die Mutter des Diplomaten Stéphane Hessel, sondern auch eine Frau voller Mut, Stärke und Gewitztheit Biografie einer Unangepassten

13.07.2013, 01:22

Berlin (dpa) l Es kommt nicht gerade häufig vor, dass ein über 90-Jähriger zum Jugendidol wird. Genau das war bei Stéphane Hessel (1917-2013) der Fall, als er vor einigen Jahren das schmale Bändchen "Empört euch!" veröffentlichte.

Der ehemalige Résistancekämpfer und Diplomat inspirierte mit seinem globalisierungskritischen Werk die Occupybewegung. Der hellwache und schlagfertige Greis, der genauso gut Deutsch wie Französisch parlierte, starb Anfang 2013 in Paris. Es verwundert nicht, dass ein so außergewöhnlicher Mann wie Stéphane Hessel auch eine außergewöhnliche Mutter hatte.

Die gebürtige Berlinerin Helen Hessel (1886-1982) war überaus unkonventionell, geistreich und tollkühn. Dem französischen Starregisseur François Truffaut diente sie als Vorbild für seine Filmfigur Catherine in "Jules und Jim", verkörpert von Jeanne Moreau. Die französische Autorin Marie-Françoise Peteuil würdigt in einer Biografie diese fast vergessene Lebedame, Malerin und Journalistin, die keine Herausforderung scheute. Obwohl sie behütet aufwuchs, war ihr Leben frühzeitig überschattet. Ihre Mutter endete schwermütig in einer Anstalt, mehrere Geschwister begingen Selbstmord.

Helen wollte Malerin werden und war sogar einige Zeit Schülerin von Käthe Kollwitz. Doch es ist nicht ganz untypisch für diese zwar kraftvolle, aber auch sprunghafte Frau, dass sie später die Malerei von einem Tag auf den anderen aufgab. Stattdessen widmete sie ihr Leben ganz der Leidenschaft. In Paris war sie zunächst der hartnäckigen Werbung des Schriftstellers Franz Hessel erlegen und ging bald eine Ehe mit ihm ein, die weniger von starken Gefühlen als von Kameradschaft geprägt war. Erotisch dagegen fühlte sich Helen von Franz\' bestem Freund Henri-Pierre Roché angezogen.

Über das Auf und Ab dieser Obsession führten sowohl Helen als auch ihr Liebhaber Tagebuch. Helens "Journal" wurde nach ihrem Tod veröffentlicht und war in ihrer Wahlheimat Frankreich eine Sensation, auch wegen der darin zur Schau gestellten Freizügigkeit. Andererseits ist es beinahe peinlich, wie diese selbstbewusste Frau einem Schwächling wie Roché hörig wurde.

Erst drängte er Helen in eine Schwangerschaft, weil er einen Sohn wollte, dann bekam er Angst vor der Verantwortung und forderte die Abtreibung - und sie gab nach! Roché besaß sogar noch die Chuzpe, die Schwangere kurz vor der Abtreibung zu fotografieren. Um das Maß voll zu machen musste Helen Jahre später feststellen, dass ihr Liebhaber "seinen" Sohn dann von einer anderen Frau bekommen hatte. Roché, dieses große Kind, hatte wohl festgestellt, dass Helen einfach "zu stark" für ihn war.

Es ist etwas schade, dass die Autorin dieser nervigen Liebesbeziehung so viel Raum widmet. Denn sehr viel mehr Größe bewies Helen in den dramatischen Kriegsjahren, als sie wie eine Löwin für ihre Familie kämpfte. Es gelang ihr nicht nur, ihren bedrohten jüdischen Ex-Mann Franz Hessel aus Deutschland herauszubekommen, mit ihren Söhnen erlebte sie auch Flucht, Gefangenschaft und schließlich die Befreiung. In der täglichen Bedrohung zeigte sie Tapferkeit und Stärke, aber auch jene Gewitztheit, die ihr Sohn Stéphane in so reichem Maße von ihr geerbt hat.