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Literaturnobelpreisträger Ivo Andric Im Brand der Welten

Der einst weltberühmte Schriftsteller Ivo Andrić rückt durch die neu aufgeflammten Konflikte in Ex-Jugoslawien mit seinen Romanen, aber auch seinen politischen Ansichten wieder in den Mittelpunkt. Der Literatur-Nobelpreisträger von 1961 bietet Anhängern wie Feinden eine Vielzahl von schillernden Reflexionsflächen.

11.02.2022, 18:45
Ivo Andric (l.) wird zeitlebens – zunächst als Diplomat, später als Schriftsteller –  den wichtigsten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte begegnen. Hier trifft er beim Treffen des Pen-Club im Jahr 1965 im jugoslawischen Bled den chilenischen Autor Pablo Neruda.
Ivo Andric (l.) wird zeitlebens – zunächst als Diplomat, später als Schriftsteller – den wichtigsten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte begegnen. Hier trifft er beim Treffen des Pen-Club im Jahr 1965 im jugoslawischen Bled den chilenischen Autor Pablo Neruda. Foto: dpa

Uwe Kreißig - Das Leben, das Ivo Andrić (1892-1975) führen sollte, war ihm nicht in Ansätzen vorbestimmt. Aus ärmsten Verhältnissen kommend, wächst der bosnische Kroate bei Verwandten in Višegrad in ärmlichen Verhältnissen auf. Bosnien-Herzegowina liegt seit Jahrhunderten unter Fremdherrschaften. Lange beherrschen es die Osmanen, die es ausplündern. Ein Fortschritt findet nicht mehr statt, in Istanbul interessiert sich niemand für den Flecken auf der Landkarte, auf dem ein Völkergemisch mehr oder weniger gut miteinander auskommt.

Als Österreich-Ungarn das Land 1878 vom Osmanischen Reich übernimmt, gibt es einen großen Aufschwung in Wirtschaft und Verwaltung. Doch auch das Dirigat aus Wien wird von weiten Teilen der Bevölkerung als Fremdherrschaft empfunden.

Das folgenschwerste Attentat der Geschichte

In der Schule zeigt er sich talentiert, und ein Förderer ermöglicht ihm den Besuch eines Gymnasiums in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Am Gymnasium kommt Andrić in Kontakt mit der Organisation Mlada Bosna, gehört aber nicht zu ihrem innersten Kreis. Ein Mitschüler und Mitglied der Gruppe, Gavrilo Princip, wird am 28. April 1914 das folgenreichste Attentat der Weltgeschichte begehen. Bei dem Anschlag in Sarajevo wird der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand getötet. Daraus entwickelt sich eine Kaskade von schwersten Konflikten: zwei Weltkriege und eine Vielzahl weiterer Kriege, die bis in die Gegenwart reichen. Andrić schadet die Mitarbeit bei „Mlada Bosna“ zunächst, 1945 wird sie ihm das Leben retten.

Nach diversen Studien in Zagreb, Wien, Krakau und Graz wird er 1920 Diplomat für das Königreich Jugoslawien in wechselnden Stationen in Westeuropa. Er erweist sich im Vatikan, in Bukarest, Triest, Paris, Madrid, Brüssel und Genf als glänzender Diplomat: Andrić ist vielsprachig, eloquent und gebildet. Seine Begegnungen, Beobachtung und Erlebnisse fließen in seine Notizen, aus denen später seine Romane entstehen, mit denen er berühmt werden wird.

1939 wird Andrić schließlich Gesandter der jugoslawischen Botschaft in Berlin. Dort begegnet er dienstlich den Granden der NS-Diktatur, auch Adolf Hitler. Viele Jahre später wird man feststellen, dass Andrić vermutlich der einzige Mensch war, der Hitler, Stalin, Mao und Tito persönlich traf.

Auch durch seine – lebenslange – Vorsicht lässt er sich rechtzeitig abberufen und lebt während des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung Serbiens in Belgrad.

In dieser Phase von knapp vier Jahren schreibt er seine drei großen Romane „Die Brücke über die Drina“, „Das Fräulein“ und „Wesire und Konsuln“, mit denen er in die Weltliteratur eingehen und gleichzeitig den Hebel für den späteren Nobelpreis anlegen wird.

Andric überlebt nach Kriegsende nur knapp

Nach dem Krieg gehen die neuen Herrscher unter Tito auf Menschenjagd. In den ersten Wochen werden mindestens 70 000 politische Gegner, „Volksfeinde und Faschisten“, ermordet. Andrićs Beteiligung bei „Mlada Bosna“ und einflussreiche Fürsprecher unter den neuen Herren retten ihm das Leben. Er selbst ordnet sich dem Regime sofort unter, später wird er auch Parteimitglied werden: in Titos „Bund der Kommunisten“.

Mit seinen drei wichtigsten Romanen und weiteren Werken arbeitet sich Andrić zum Star-Autor hinauf. Gleichwohl ist der Literatur-Nobelpreis für ihn auch eine politische Entscheidung. Damit will man auch den Moskau-abtrünnigen Diktator Tito belohnen, der freilich mit Andrić nicht einverstanden ist. Er hatte einen anderen Favoriten.

Andrić lässt sich aber für die Propaganda des Vielvölkerstaates gut gebrauchen. Kroaten, die ihn als Landsmann verstehen, sind seine Anhänger wie die Serben, zu denen sich Andrić später bekennen wird. Nur die Muslime im Land sind skeptisch bis ablehnend. Für die Probleme wie die Rückständigkeiten und ethnischen Spannungen in Bosnien-Herzegowina oder im Kososvo mache er die Osmanen und die muslimische Bevölkerung verantwortlich – so deutet man zumindest das Werk in dieser Gruppe. Und so deuten es Kroaten, Serben und die Muslime im Ex-Jugoslawien heute wieder. Über keinen Künstler wird in den jugoslawischen Folgestaaten mehr gestritten als über Andrić.

Seine Romane gehen aus dunklen Zeiten hervor

„Seine Romane gehen, wie viele große Werke, aus dunklen Zeiten hervor“, schreibt Michael Martens in seiner Andrić-Biographie „Im Brand der Welten“ und ergänzt: „Die Vergangenheit ist der Deckmantel, unter dem er über die Gegenwart schreibt.“

Martens hat mit seinem Buch die vielleicht größte Schriftsteller-Biografie der Gegenwart verfasst. Es ist ein Standardwerk für Literaturfreunde, Historiker, Europäer und Psychologen. Andrić ist für Martens „ein wahrer Dichter“: „Er hat das, was er nicht gewusst hat, trotzdem erfasst.“

In seinen Romanen beschreibt Andrić in einem unnachahmlichen Stil, wie Regionen und dann Staaten von innen zerbrechen, weil die Menschen der ihnen aufgezwungenen Geschichte an einem bestimmten Punkt nicht mehr standhalten wollen. Seine Bücher hätten genauso gut in Afrika oder Asien und Amerika oder in Westeuropa angesiedelt sein können, aber er machte es am südlichen Balkan fest, seinem Jugoslawien, nicht nur, weil er sich dort am besten auskannte, sondern weil der Balkan die geeignete, für Europäer leicht verständliche Metapher war. Als Diplomat, Beobachter und Weltreisender hatte Andrić ohnehin gesehen, erlebt und erfahren, dass diese archaischen Gesetze an jedem Ort der Erde galten.

Ivo Andric zur Zeit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1961.
Ivo Andric zur Zeit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1961.
Foto: Imago