Sozusagen Paris - Navid Kermanis Szenen einer Ehe
Ein Schriftsteller hat seine Jugendliebe zum Thema seines neuesten Romans gemacht. Bei einer Lesung in einer Kleinstadt steht sie plötzlich vor ihm - und er erkennt sie nicht gleich. In seinem neuen Roman gibt Navid Kermani auch ein bisschen von sich selbst preis.
München (dpa) - Was sagt es über die erste große Liebe aus, wenn man die Angebetete 30 Jahre später erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt? Es muss doch etwas geben, das den unvermeidlichen Alterungsprozess schadlos überdauert hat. Etwas wie ein gewisses Lächeln, eine Geste oder eine liebenswerte Zahnlücke.
Immerhin, Navid Kermanis Ich-Erzähler aus seinem neuen Roman Sozusagen Paris - ein Romancier, der sein Buch über die große Liebe in einer deutschen Kleinstadt vorstellt - geht ein Licht auf, nachdem besagte Frau namens Jutta beim Signieren des Werks darauf besteht, nicht Jutta genannt zu werden.
Sie ist es dennoch, auch wenn die Zahnlücke verschwunden ist. Leider. Und sie ist - gereifter und natürlich etwas gealtert - noch immer die begehrenswerte Schönheit, wie er sie als 15-Jähriger vom Schulhof her gekannt und geliebt hat. Ob da noch was geht, fragt er sich nun - und sie, ob sie ihn zum Essen mit den Initiatoren der Lesung begleiten möchte. Sie möchte und ist alsbald Mittelpunkt der Gesellschaft.
Möglicherweise als Entschädigung für seine vorübergehende Entthronung als Ehrengast lädt sie ihn auf ein Glas Wein zu sich nach Hause ein. Muss ja nicht lang sein. Es wird lang. Die ganze Nacht dauert die beredte Zweisamkeit, über die er bereits den nächsten Roman gedanklich formuliert. Auch als er erfährt, dass oben Juttas drei Kinder schlafen und ihr Mann über seinen Abrechnungen sitzt, denkt er noch an Sex, während sie, die Bürgermeisterin der Kleinstadt, sich langsam entblättert, allerdings rhetorisch.
Zu seinem Leidwesen geht sie nicht darauf ein, was er in seinem Roman über seine große Liebe (Jutta) geschrieben hat, und was wäre, wenn... Vielmehr steigert sie sich in Rage, wenn sie über ihr (gewöhnliches) Leben spricht, das doch ganz anders verlaufen sollte. Statt Weltrettung nunmehr Mülltrennung und sensorgesteuerte Ampeln. Statt Empathie Gleichgültigkeit ihres Mannes. Oder schlimmer. Es entspinnt sich ein Disput über Liebe, Hass, Ehe, Trennung, Sex und Erfüllung - wunderbar befeuert durch die Literatur, die hinter den beiden im Bücherschrank steht. Hauptsächlich französische Literatur.
Proust, Balzac, Zola, Flaubert oder Stendhal eigenen sich gut für die Grundierung seiner Ansichten über Glück oder Unglück in der Ehe. Einer bürgerlichen, wie sie im 19. Jahrhundert entstand und - na ja, vielen auch heute noch als Normativ gilt, mit ein paar emanzipatorischen Korrekturen und womöglich mit einem etwas anderen Verständnis von Treue.
Jutta, die progressive Schulfreundin, Stadtoberhaupt und nebenbei Tantra-Lehrerin, sieht allein durch die mit ihrem Mann praktizierte tantrische Erotik neben den Kindern die Basis für den Erhalt der Ehe, die ansonsten wohl eher zur Scheidung ausgeschrieben werden müsste. Er ist sich nicht sicher, was Jutta will. Und er? Seine gescheiterte Ehe kommt ihm in den Sinn und überhaupt die Sinnhaftigkeit des Zusammenlebens.
Eine Frage, auf die Kermani natürlich keine Antwort gibt. Nicht geben will und kann, auch wenn er eigenen Worten zufolge durchaus auch Biografisches in dem Roman verarbeitet hat. Der 1967 in Deutschland geborene Iraner assoziiert lieber Bilder der französischen Literatur aus der Vergangenheit mit denen aus Juttas Gegenwart. Und so steht Paris sozusagen als Symbol für gedanklichen, epischen und natürlich auch erotischen Freigeist. Nicht nur wegen der Weiterführung der Handlung, sondern speziell auch wegen seiner liberalen Deutung des Begriffs Beziehung kann Sozusagen Paris als Fortführung seines vor zwei Jahren erschienenen Buchs Große Liebe gewertet werden.
Doch das ist nicht alles, was der vor Jahresfrist mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrte und darüber hinaus mehrfach ausgezeichnete Autor, der heute in Köln lebt, in seinem neuen Roman punktuell berührt: Es geht auch um religiöse Toleranz und politische Aktualität. Den Islam (samt dem von ihm ausgehenden Terror) will der muslimische Protagonist als Gesprächsthema mit Jutta partout vermeiden und zieht ihn doch für sich gedanklich abschweifend immer wieder hinzu.
Das knapp 300 Seiten starke Buch enthält viele Nuancen, obwohl es doch hauptsächlich ein einziges, die Nacht füllendes Beziehungsgespräch zwischen zwei Menschen ist, die einander 30 Jahre nicht gesehen haben - optisch gekennzeichnet allein dadurch, dass es keine Kapitel gibt. Und ist trotzdem durchweg unterhaltsam, überraschend und manchmal sehr witzig. Nicht zuletzt durch einen Lektor als imaginären Kritiker und auch durch die Abstecher zu Neil Young und dessen Song Ramada Inn, der ebenfalls Szenen einer Ehe aufs Korn nimmt. Ein klein wenig erinnert Kermanis Roman auch an den gleichnamigen Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman von 1973, wenngleich er aus einer anderen Perspektive geschrieben wurde.
- Navid Kermani: Sozusagen Paris. Carl Hanser Verlag München, 288 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3- 4462-5276-9.