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Zeitgeist der 20er Jahre Vor 100 Jahren wurde Berlin zur "Hauptstadt des Verbrechens"

Die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren eine aufregende Zeit in Deutschland. Natalie Boegel zeigt am Beispiel von Berlin, wie die Moderne Freiheit, Chaos und Kriminalität brachte und so den Ausgangspunkt für die Fernsehserie "Babylon Berlin" bildete.

Von Axel Knönagel, dpa 09.10.2018, 10:23
«Berlin - Hauptstadt des Verbrechens"»von Nathalie Boegel. Foto: DVA/Random House
«Berlin - Hauptstadt des Verbrechens"»von Nathalie Boegel. Foto: DVA/Random House Random House

Berlin (dpa) - Vor 100 Jahren brach das deutsche Kaiserreich zusammen und mit ihm ein Großteil der gesellschaftlichen Ordnung. Das einst so selbstbewusste Reich war in seinen Grundfesten erschüttert, die bislang scheinbar allmächtige Staatsgewalt hatte praktisch jegliche Autorität verloren.

Weitgehend unvorbereitet fanden sich die Menschen in einem demokratischen System wieder, das plötzlich viele ungewohnte Freiheiten ermöglichte. In der Politik entwickelte sich die problembelastete Demokratie der Weimarer Republik, deren Weg in die Diktatur führte, während gleichzeitig Kunst und Kultur in der neu gewonnenen Freiheit ungeahnte Höhen erreichten.

Aber auch im täglichen Leben vieler Menschen änderte sich Grundlegendes. Sozialer Aufstieg schien weitaus eher möglich als früher, Frauen konnten neue Freiheiten für sich gewinnen, und auch die Vergnügungsmöglichkeiten wurden immer vielfältiger und extravaganter.

All dies manifestierte sich besonders deutlich in Berlin. Mit über vier Millionen Einwohnern war die Reichshauptstadt nicht nur die bei weitem größte Stadt des Landes, hier entwickelten sich auch alle neuen Trends schneller und intensiver als sonst irgendwo im Land. So wurde Berlin in den 20er Jahren zur "Hauptstadt des Verbrechens", wie die Journalistin Natalie Boegel ihr Buch nennt. Das Jahrzehnt war übervoll mit abenteuerlichen Geschichten und Personen, die ihre besonderen Eigenarten der Einmaligkeit ihrer historischen Situation verdankten.

Schon die erste Episode im Buch kann hierfür als Beispiel dienen. Unmittelbar nach den Neujahrsfeiern 1919 wurde im Luxushotel Adlon direkt am Brandenburger Tor ein Geldbote ermordet. Der Täter entkam mit einen hohen Geldbetrag, nicht zuletzt deshalb, weil der abgesetzte Polizeipräsident sich weigerte, sein Amtsgebäude zu verlassen und der bewaffnete Aufstand der Sozialisten ein Übriges dazu tat, die Ermittlungsarbeit der Polizei zu behindern.

Boegel zeichnet ein facettenreiches Bild einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Nur so ist etwa der Erfolg eines abenteuerlichen Investmentplans zu erklären, in dem ein Betrüger den Anlegern Renditen von mehreren hundert Prozent versprach und somit kurzzeitig Millionen anhäufte.

War dieser Betrüger Max Klante ein Einzeltäter, so war in Berlin die organisierte Kriminalität bestens strukturiert. In sogenannten Ringvereinen kümmerten sich Einbrecher, Erpresser und Diebe um entlassene Gefangene und betrieben gleichzeitig ihre eigenen kriminellen Geschäfte. Dabei hielten sie sich, wie Boegel detailliert darstellt, bemerkenswert gewissenhaft an Traditionen deutschen Vereinslebens.

Natürlich widmet sich Boegel in ihrem Buch auch ausführlich der beeindruckenden Figur Ernst Gennat. Der Leiter der Berliner Mordkommission revolutionierte mit modernsten Ermittlungsmethoden die Arbeit der Kriminalpolizei und erreichte so eine legendäre Erfolgsquote.

Ebenso wie Gennat, dem Volker Kutscher in seinen Gereon-Rath-Krimis ein Denkmal gesetzt hat, auf dem die erfolgreiche Fernsehserie "Babylon Berlin" basiert, so wurden auch Verbrecher zu populären Figuren. So etwa die Gebrüder Sass, Geldschrankknacker, denen viele Menschen zugutehielten, dass es ihnen auch um den sozialen Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen ging.

Die in Berlin vorherrschende Kriminalität wurde immer düsterer, je länger das Jahrzehnt andauerte. Immer größer wurde der Anteil der politisch motivierten Kriminalität in der Hauptstadt, Radikale von links und rechts bekämpften einander mit allen Mitteln. Die Kriminalgeschichte des Jahrzehnts spiegelt eindeutig die politische Geschichte.

Natalie Boegel erzählt die Sozialgeschichte der Weimarer Republik aus einem ungewöhnlichen, aber sehr passenden Blickwinkel. Das Buch beleuchtet eine spannende Phase deutscher Geschichte, die viele Aspekte der Moderne begründete, die immer noch aktuell sind. Und für Zuschauer von "Babylon Berlin" liefert Natalie Boegel unterhaltsame und spannende Hintergrundinformationen.

- Nathalie Boegel: Berlin. Hauptstadt des Verbrechens. Deutsche Verlagsanstalt, München, 288 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-421-04832-5.

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