1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. "Das Museum wird wieder ein Massenmedium"

Chris Dercon spricht über sein Haus in London, Eintrittsgelder und eine globalisierte Welt im Kunstmilieu "Das Museum wird wieder ein Massenmedium"

22.10.2011, 04:20

Rund acht Jahre lang leitete Chris Dercon (53) das Münchner Haus der Kunst und gab ihm ein neues Profil. Im April 2011 trat er den Posten des Direktors der Tate Modern in London an. Und um neben den jährlich bis zu fünf Millionen Besuchern noch mehr Menschen zu erreichen, bietet die Tate Modern bald virtuelle Schauen an. Die Nachrichtenagentur dpa hat mit Chris Dercon gesprochen.

Frage: Sie sind seit einem guten halben Jahr an der Tate Modern in London - was ist der größte Unterschied zu München?

Chris Dercon: Die Inhalte, die man anbietet, sind natürlich ähnlich wie die, die ich in New York in den achtziger Jahren, in Rotterdam in den neunziger Jahren und dann in München am Anfang des 21. Jahrhunderts angeboten habe. Der Unterschied ist aber, dass die Inhalte mittlerweile viel komplexer geworden sind. Das hat nichts mit mir zu tun. Die Leute stellen viel komplexere und ganz andere Fragen an uns, an Museen, an Kunst, als früher.

Frage: Welche Entwicklungen sehen Sie noch?

Dercon: Das andere, was sich in den letzten 30 bis 40 Jahren verändert hat, ist, dass das Kunstmilieu total globalisiert ist. In London gibt es plötzlich Ausstellungen über Gegenwartskunst aus Jakarta. Der dritte Unterschied ist, dass die Bildende Kunst mittlerweile wie ein Schwamm operiert. Die Kunst nimmt so viele unterschiedliche Dinge auf, so viele unterschiedliche Richtungen wie Tanz und Theater, aber auch Soziologie und Anthropologie, Architektur und Design. Es ist fast wie ein Archipel geworden, an den man alle Fragen stellen kann und der alle Antworten liefert. Das ist toll, aber es macht auch vieles schwieriger."

Frage: Welche Konsequenzen haben diese Veränderungen für den Museumsbetrieb?

Dercon: Zum Beispiel muss man sich fragen, wie man ein Museum als physische und als soziale Organisation baut. Muss man aus allen Richtungen Spezialisten anziehen? Muss man Hörsäle und Lernräume bauen? Was muss man machen? Mit Tate Modern versuchen wir, ein Museum für die Zukunft zu bauen, in dem all das stattfinden kann. Doch bei diesem Bauen geht es nicht nur um Steine, um Beton. Es geht um Menschen, es geht um Programme, es geht auch um digitalen Raum. Die Frage ist: Was wollen diese Menschen? Man muss erstmal die erste, richtige Frage stellen.

Frage: Haben Sie schon erste Antworten darauf?

Dercon: Die Dinge sind komplexer geworden für mich und alle anderen. Aber hier hat man eine Antwort von Millionen, nicht nur im Haus, sondern auch von außerhalb des Hauses. Ich kenne diese Leute nicht, die vor Facebook oder Twitter sitzen. Interessant ist, dass sie in ihrer eigenen Zeit und auf ihre eigene Art und Weise mit uns umgehen können. Und das ist ganz neu. Das Museum als autoritäre Stimme im Sinne von "ich bin der Kurator", "ich bin der Künstler, das Genie" und der Kritiker, der dann sagt "das ist gut oder schlecht" - das ist vorbei.

"Ein Ort für Verhandeln von Konflikten"

Frage: Wie gehen Sie damit um, dass in die Tate Modern tatsächlich täglich Tausende, also Massen, strömen?

Dercon: Ich habe keine Angst vor Massen. Man muss das Museum wieder neu formulieren als ein Massenmedium. Die Gesetze und die Regeln des Massenmediums Museum, die kennen wir noch nicht. Aber die kann man erkennen, wenn man sieht, wie die Leute damit umgehen und wie sie zum Beispiel Gerhard Richter anschauen.

Frage: Was sagen Sie dazu, dass der Eintritt zur festen Ausstellung der Tate Modern frei ist? Gerhard Richter hat sich bei der Eröffnung seinerAusstellung nicht unbedingt begeistert davon gezeigt.

Dercon: Das ist wunderbar. Wir sind billiger als die Theater im West End. Das Problem der Generation Richter ist: Sie haben immer das Publikum als Problem gesehen. Es gibt ein Liebe-Hass-Verhältnis zum Publikum. Künstler wie Richter fragen sich: Ist es möglich, dass so viele Leute etwas ansehen? Für die jungen Künstler ist das kein Problem mehr. Das Museum ist ein Ort für das Verhandeln von Konflikten. Konflikte zwischen Alt und Jung, zwischen ganz nah und ganz fern, zwischen teuer und billig, zwischen bekannt und nicht bekannt, zwischen dem, was einfach ist und schwierig. Deshalb sind wir einzigartig.