1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Dieser Tonfall fügt sich bruchlos in das Original ein

"Der Besuch der alten Dame" hatte am Schauspielhaus Magdeburg Premiere Dieser Tonfall fügt sich bruchlos in das Original ein

28.09.2010, 04:17

Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" wurde 1956 in Zürich uraufgeführt. Das Städtchen Güllen, in das die alte Dame zu Besuch kommt, liegt überall, und das Stück spielt immer in der Gegenwart, so auch in der Inszenierung von Susanne Truckenbrodt am Magdeburger Schauspielhaus.

Von Liane Bornholdt

Magdeburg. Die Güllener rücken sich ihre Stadt zurecht, versuchen den vom Niedergang ramponierten Dom und das Theater, das dunkelgrün gestrichene Pissoir, den gelben Zeitungskiosk, den Plattenbaublock und vor allem den längst schon mit Brettern vernagelten Hauptbahnhof in Modellbaugröße zu einer anmutigen Stadtlandschaft zusammenzusetzen. Die stillgelegte Fabrik bleibt ganz hinten am Stadtrand. Die Versuche aber misslingen immer wieder dadurch, dass Züge in rasender Geschwindigkeit und unter ohrenbetäubendem Lärm die Stadt ohne Halt durchfahren.

Reiche Frau als Hoffnung der Stadt

Das Städtchen sei einmal ein geschichtsträchtiger Ort gewesen, Wagner habe hier Kaffee getrunken, Georg Philipp Telemann sei hier geboren und das Vakuum wurde hier entdeckt, das Nichts.

Bürgermeister (Axel Strothmann), Lehrer (Ralph Martin) und Polizist (Marc Rißmann) sowie der Kaufmann und Kioskbetreiber Alfred Ill (Thomas Dehler) und seine Frau Mathilde (Iris Albrecht) proben für den Empfang der "alten Dame", der Multimilliardärin Claire Zachanassian. Die reichste Frau der Welt ist auch in Güllen geboren und nun die große Hoffnung der Stadt und ihrer Bewohner.

Dem Nebel der durchfahrenden Schnellzüge entsteigt mittels Notbremsung die Dame. Die Berlinerin Esther Esche spielt die Claire, und sie scheint hier gar nicht aus einer anderen Welt zu kommen. Sie ist nur etwas eleganter, wirkt jugendlich und gepflegter als das Güllener Durchschnittsvolk, und eigentlich ist sie wenig exzentrisch.

Aufgekratzt sind die Güllener Bürger, sie sind alle nachlässig, provinziell, und ihre Bemühungen so albern kleinherzig, dass Claires Reaktionen sehr verständlich sind. Sie lacht das Empfangskomitee aus. Alle Hoffnungen ruhen nun auf Alfred, der Jugendliebe Claires, und der erinnert sich gern an seine "wilde Katze".

Das Volk fällt in geschönte Nostalgie, die darin gipfelt, dass einige der 70er-Jahre-Ost-Rock-Hits zur Volksmusik verkommen und im Chor gesungen werden. "Abendstunde, schöne Stunde" singen sie, und auch Claire wird nicht frei sein von dieser Art musikalischer Erinnerung.

Ein unmoralisches Angebot

Zunächst aber unterbreitet sie ihr unmoralisches Angebot: eine Milliarde gegen das Leben von Alfred Ill. Sie zieht sich zur Beobachtung in einen Sessel am Bühnenrand zurück.

Alfred, der einst Claire des Geldes wegen nach allen Regeln der Kunst sitzen ließ und die damals 17-jährige Schwangere dem Spott der Güllener aussetzte, bis sie die Stadt verließ, hat diese Kleinigkeit seiner Jugendzeit verdrängt. Thomas Dehler spielt den Alfred sehr gut auf seinem Weg vom biederen Vater zum Gejagten und schließlich Getöteten. Sehr fein die wachsende Angst und Enge angesichts der Krediteuphorie, die erst den Bürgermeister ergreift, den Lehrer und Polizisten bis zur eigenen Familie. Sein Sohn, Max Nehrig vom Theaterjugendclub, widersteht noch am längsten, bis auch er ein "ganz billiges" Auto kauft.

Susanne Truckenbrodt hat sich gerade dieser eigentümlichen Aufbruchstimmung ausführlich gewidmet. Hektischer Aktivismus befällt die Güllener, und im Hintergrund auf einer Videowand wird die erst ferne Stadtansicht über die Elbauen auf den Dom überwuchert von einer erst eindrucksvollen, schließlich monströsen Skyline aus Bürotürmen, die aber – eine Spur von Nachsicht zeigt die Inszenierung dann doch – schließlich zerbröselt. Alle Darsteller zeigen, wie gut sich ihr schlechtes Gewissen vereinbaren lässt mit den "segensreichen Wirkungen des Geldes". Man erzeugt mit den Krediten die berühmten Sachzwänge, die im Hinrichtungsbeschluss gipfeln.

Das Stück ist textlich genau so viel modernisiert worden, dass sich die Gegenwart widerspruchfrei darstellt, "Hartz IV" kommt vor und einige sehr authentische Floskeln von Jugendsprache. Sehr gut gemacht, ohne Übertreibung und in genau dem Tonfall, der sich bruchlos in den Originaltext einfügt. Es ist ja auch nicht viel zu modernisieren an Dürrenmatts Geschichte. Sie trifft heute wie eben bereits vor einem halben Jahrhundert, und dieser Inszenierung ist es beklemmend gut gelungen, das genau zu zeigen. "Alles ist käuflich", sagt Claire den Jugendlichen in Güllen.