Magdeburger Schriftsteller Hanns H. F. Schmidt wird morgen 75 Jahre alt Ein Mann auf ständiger Entdeckungstour
Einer der klügsten, universell gebildetsten und freundlichsten Menschen Sachsen-Anhalts wird am 4. Juli 75 Jahre. Alt? Nein. In geistiger Lebhaftigkeit und Wachheit ungemein jung. Die Rede ist von dem Magdeburger Schriftsteller Hanns H. F. Schmidt.
Magdeburg l Er war Mathematik- und Musiklehrer. Seine ersten Veröffentlichungen hatte er 1953 in der Halberstädter Volksstimme. Über die AJA - die "Arbeitsgemeinschaft junger Autoren" - fand er zum Schriftstellerverband. In Salzwedel leitete er selbst einen Zirkel schreibender Arbeiter, dem viele Talente entsprossen. 1965 kam er dem sozialistischen Bildungswesen abhanden und wurde freiberuflicher Autor.
Das war ein großer Verlust für die Schüler - aber ein immenser Gewinn für Zehntausende von Lesern. Er schreibt. Er erforscht die Kulturhistorie Sachsen-Anhalts und kommt dabei auf viel größere Zusammenhänge in Deutschland und Europa. Er musiziert. Er komponiert. Er zeichnet und malt. Er spielt Theater, schrieb für das Kabarett und zehn Kinderhörspiele für den Funk. Er präsidiert der Stolberger Schnabel-Gesellschaft als 2. Vorsitzender. Er sammelt. Sein Tag könnte 48 Stunden haben.
35000 Einträge im Internet, kein Wikipedia
Schmidt ist in jeder Beziehung außergewöhnlich. Man könnte doch erwarten, dass ein Autor mit 80, 100 Büchern mit einem dicken Eintrag bei Wikipedia vertreten ist. Ist er aber nicht. Seine 35000 Eintragungen im Internet beziehen sich ausschließlich auf seine vielfältigsten Aktivitäten.
Heute redet man viel von "Entschleunigung", um Lebensqualität in hektischer Zeit zu gewinnen. Schmidt braucht darüber nicht zu schwätzen. Er hat die Langsamkeit wiederentdeckt. Die Bedächtigkeit. Seine ersten Bücher waren literarische Reportagen. Er durchstreifte in den 70er Jahren zunächst die Altmark, später dann die Börde und den Harz für zwei schöne, in der Ausstattungsqualität nie wieder erreichte Bände des Greifenverlages zu Rudolstadt. Zu Fuß. Ruhig, mit Muße. Seume hatte einst wandernd vom mitteldeutschen Poserna aus sein Syrakus entdeckt.
"Geht man zu Fuß, so geht man nach seinem Willen und hält sich nach seinem Willen auf", befand der Aufklärer Jean-Jaques Rousseau. Schmidt sah, was den Augen bei schnellen Erkundungen mit dem Auto verborgen bleibt. Er hörte den Leuten zu. Mit Interesse und Wissbegier auf ihre einmaligen Erzählungen und Lebensweisheiten. Bis heute erkundet er nach diesem Prinzip die Landschaften. Damals fügte der Fotograf Gerald Große stimmungsvolle Aufnahmen hinzu - auch sie entstanden nach genauem Hinschauen. Keine Schnappschüsse.
Dem Alltäglichen Stimme und Sprache gegeben
Seine Reportagen leisteten Unersetzliches: Sie gaben dem Alltäglichen Stimme und Sprache. Vieles ist davon bei der Zeitenwende 1989 unwiderruflich im großen Strudel untergegangen: Die Beobachtungen bei "Wischeobst" wie bei LIA - dem Havelberger Betrieb für "Landtechnische Industrieanlagen" - oder den keramischen Werken in Haldensleben. Wie Künnes Museum in Püggen - längst passé wie der Charme der stillgelegten Triebwagenstrecken im Elb-Havel-Winkel. Oder die Schilderung der Konsum-Wirtshauses "Zum blanken Arsch" in Haus Nienburg am Huy, das einst den Geheimrat Goethe zur Übernachtung beherbergte und das zur Ruine verkam.
Aber ein Buch aus jüngerer Zeit setzt da wieder an: "Vom Leben der kleinen Leute in Sachsen-Anhalt". Wie lebten die Bauern und Handwerker, die Tagelöhner und Almosenempfänger? Er entreißt sie dem Vergessen - ebenso wie die untergegangenen Tante-Emma-Läden.
Hanns und Eleonore Schmidt kauften zu DDR-Zeiten ein kleines Fachwerkhaus im kleinsten Dorf Sachsen-Anhalts, im altmärkischen Püggen. Am Haus brachte er bunte hölzerne Marienkäfer und Blumen an - zum Entsetzen der Alteingesessenen. Die Schmidts hatten und haben kein Auto. Oft standen sie in Siedenlangenbeck auf dem Bahnhof und warteten auf den Zug, der sie wieder zurück zu ihrer Wohnung in Magdeburg brachte.
Im einstigen Schweinestall entstand nach der Wende ein Puppentheaterchen. Für seine Frau, die ihre Arbeit verloren hatte. Die Schmidts spielen zum Vergnügen der Kinder. Eintritt zwei Euro. In diesem Jahr wird "Aschenputtel" gegeben. Die Stücke, die Puppen und die Ausstattung - alles ist original Schmidt. Für die Schnabel-Gesellschaft schrieb er Marionettenspiele und illustrierte das Buch "Das erstarrte Stolberg und andere sonderbare Nachrichten".
Derzeit komponiert er ein Quartett für Holzbläser
Geboren wurde Schmidt 1937 in Walkenried. Das lag nach 1945 in der britischen Besatzungszone. Unerreichbar fern. Ellrich auch - in der sowjetischen Zone direkt am Grenzzaun. Nach der Wende sah sich Schmidt in der Heimat um und schrieb seine Erinnerungen an die Außenlager des nahen KZ Mittelbau-Dora auf. Jedes Jahr im Sommer musiziert er mit drei Virtuosinnen ein Konzert in der Ellricher Hospitalkirche. Tradition sind auch seit 1986 die Weihnachtskonzerte für den Magdeburger Richard-Wagner-Verband.
Und die Faschingskonzerte. Schmidt sucht und findet für all das vergessene Kompositionen aus dem Musikland zwischen Bismark und Zeitz. Und schreibt neue. Eine Schuloper schaffte es bis nach Belgien. Derzeit komponiert er ein Quartett für Holzbläser. Ein Multitalent, sicher in vielen Sätteln der Kunst.
Es gibt wohl keinen Menschen in Sachsen-Anhalt, der derart häufig und intensiv in Archiven, Bibliotheken und Museen nach Literatur und Geschichte, nach Malerei und Architektur gräbt wie Hanns H. F. Schmidt. Seine Frau Sigrid Eleonore ist von dieser Leidenschaft längst angesteckt und tritt zunehmend als Autorin hervor.
Er braucht nur eine Entdeckung zu machen - und sofort sind Querverbindungen da. Zeiten und Epochen erstehen in seiner kultur-archäologischen Feldforschung ganz neu. Dutzende kulturhistorischer Bücher über Bier, Butter und Bücher, über berühmte Frauen und Männer, Kirchen und Kriminalfälle, Schicksale und Skandale, über Weihnachten, Ostern und Pfingsten, über Literatur und Literaten wecken beim Leser die Lust auf Geschichte. Und auf die Geschichten des grandiosen Fabulierers Schmidt. Auch aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Thüringen, aus Brandenburg.
Wertschätzung zwischen Autor und Verleger
Die Bücher erschienen vorwiegend bei Hinstorff in Rostock, bei Harry Ziethen in Oschersleben und bei Dieter Nadolski und seinem Sohn Jost im Tauchaer Verlag. Der Magdeburger Autor und die Verleger kennen sich und hegen eine gegenseitige Vorliebe und Wertschätzung. Aus dieser Gegenseitigkeit entstehen meist auch ausgesprochen schöne Lese-Bücher. Erotik eingeschlossen. Die Reihe "Frivoles" wird mit Titeln aus dem Harz und dem Erzgebirge fortgeschrieben. Von hier und da ...
Im Freilichtmuseum "Altmärkische Bauernhäuser" in Diesdorf ist noch bis Oktober seine große Ausstellung mit Büchern, Bildern und Puppen zu sehen. Das Plakat dazu zeigt ein sonnenüberstrahltes Aquarell des kleinen Hauses von Hanns und Eleonore Schmidt in Püggen. Die Schrift ist mit dem Pinsel gezeichnet. Nicht mit dem Computer. Das macht es so liebenswert. Und wertvoll - wie alles, was durch die Hände und den Kopf von Hanns H. F. Schmidt geht. Möge es noch lange so gehen.