Hamsterrad der Zeit
Vertane Zeit, mach lieber was Nützliches." Die harschen Worte beenden das Träumen. Vertane Zeit, vergeudete Zeit, Zeitgewinn oder verlorene Zeit. Zeit wird umgangssprachlich mit einer Vielzahl von Adjektiven belegt. Was ist eigentlich Zeit? Und was bedeutet sie für jeden Einzelnen in seinem Leben?
Ganz profan ist Zeit erst einmal nichts anderes als eine willkürliche Einteilung von Vorgängen in ganz bestimmte Abschnitte. Die ersten groben Einteilungen drängten sich unseren entfernten Vorfahren mit Sommer und Winter, Tag und Nacht auf. Aber der moderne Mensch brauchte exaktere und weitaus kürzere Abschnitte, um das Leben zu organisieren. Die Stunden bestimmen unseren Tagesablauf bei der Arbeit, die Minuten vielleicht, wenn man die Straßenbahn verpasst oder zu spät im Büro erscheint. Doch damit sind die Anforderungen für das tägliche Leben schon erfüllt. Nicht so im Sport oder bei der Technik. Da geht es dann schon um Zehntel-, Hundertstel- und Tausendstel-Sekunden. In der Wissenschaft sind noch kürzere Einteilungen erforderlich, um Prozesse zu messen.
Aber was hat das alles nun mit verlorener, gewonnener oder vergeudeter Zeit zu tun?
Die Zeit interessiert sich überhaupt nicht dafür, was wir tun, sondern sie vergeht vom ersten Schrei der Geburt bis zum letzten Atemzug für jedes lebende Wesen völlig unbeeinflusst. Bei ungeheuren Ereignissen, wenn alles denkt, nun müsse die Zeit stehenbleiben - sie tut es nicht. Selbst wenn kein Mensch mehr auf diesem Erdball das Geschehen verfolgen kann oder der Planet sich in Staub aufgelöst hat, wird die Zeit weitergehen.
Die Zeit kommt nur zustande, weil wir, die Menschen, uns auf ihre Einteilung geeinigt haben. Und wir sind es auch, die sich mit Hilfe der Zeiteinteilung unter Druck setzen, Abläufe organisieren, uns selbst treiben und ein schlechtes Gewissen machen, wenn innerhalb eines fiktiven Abschnittes nicht genug Aufgaben erledigt worden sind. Es sind die Getriebenen, die sich selber treiben und damit das perfekte Perpetuum mobile der Selbstausbeutung erfunden haben.
Dieses System ist in der modernen Welt zur Perfektion gediehen. Wir sind immer aktiv, präsent, rund um die Uhr erreichbar, unentbehrlich und schließlich ausgebrannt. Burn Out sagen dann die Mediziner, und die Zahl dieser Diagnosen nimmt mit einer ungeahnten Schnelligkeit zu.
Sicher ist, dass die Schnelligkeit der Lebensabläufe zugenommen hat. Gleichzeitig hat sich der Zeitabschnitt, den wir auf dieser Welt weilen, zumindest statistisch verlängert. Aber eben nur statistisch. Beim einzelnen Menschen weiß niemand, wie viele dieser Zeitabschnitte ihm bis zum Ende zur Verfügung stehen.
Kann es vor dieser schicksalhaften Bestimmung überhaupt vertane oder gewonnene Zeit geben? Auch der Blick zu den ziehenden Wolken vor dem blauen Himmel, das Träumen oder das stille Denken an nichts ist Lebenszeit. Und es ist das Recht eines jeden, selbst darüber zu bestimmen, wie die verbracht werden soll, ob er nicht wenigstens für einen Moment mal Platz im ewig bewegten Hamsterrad der Zeit nehmen will. Manchmal ist es eben das Schönste, nichts zu tun. Es mag der Leser dieser Zeilen beurteilen, wie er diese Minuten einordnet.