Ich, Ich, Ich - Renaissance des Selbstporträts
Selfies aufnehmen kann jeder. Massenhaft schwirren sie durchs Netz - und verändern auch unsere Sicht auf die Kunst. Das Phänomen aber ist nicht neu.
Stade (dpa) - Mit dem Smartphone setzen wir uns überall in Szene. Im neuen Kleid, Klick. Im Urlaub am Strand, Klick. Mit der Freundin auf dem Konzert, Klick. Und ab damit ins soziale Netzwerk.
Wir sind eine Gesellschaft von Selbstdarstellern. Mit jedem Selfie machen wir uns ein Bild von uns, inszenieren uns in einer Rolle. Das Ausmaß ist bisher unbekannt, das Phänomen an sich nicht neu, wie eine Ausstellung in Stade zeigt. Seit Jahrhunderten porträtieren sich Menschen selbst. Das Motiv wandelte sich jedoch mit der Zeit.
Unter dem Titel Ich versammelt das Kunsthaus in Stade mehr als 100 Selbstbildnisse von norddeutschen Künstlern wie Ernst Barlach, Paula Modersohn-Becker, Jörg Immendorff, Daniel Richter und Jonathan Meese. Zu sehen sind Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Installationen aus dem 20. und 21. Jahrhundert.
Selbstporträts - quasi die Selfies des Kunstszene, wie so manche Ausstellung suggeriert - erleben in den Museen gerade eine Renaissance. Im vergangenen Jahr rückten Häuser in München, Düsseldorf und Karlsruhe diese in den Mittelpunkt, in diesem Jahr widmet sich ihnen auch die Frankfurter Schirn und eine Biennale in Innsbruck. Das Selfie kunstgeschichtlich aufzuladen ist momentan ein musealer Trend, sagt Veronika Christine Dräxler vom Kunst-Blog Selbstdarstellungssucht.de, der auch Künstler-Selfies veröffentlicht. In einem gewöhnlichen Selfie stecke an sich aber erstmal keine Kunst. Die Frage sei, was es ausdrücken soll.
Trotzdem: Das Selfie beziehungsweise die Lust an der Selbstinszenierung prägt unsere Sicht auf die Kunst. Nicht jede Abbildung der eigenen Züge eines Künstlers ist als Selbstbildnis gemeint, sagt der Kunsthistoriker Ulrich Blanché von der Uni Heidelberg. Dennoch würden diese oft so interpretiert. Und Künstler, die sich häufig selbst porträtiert hätten, seien heute wiederum meistens die bekannteren. Wenn wir an Dürer denken, sehen viele von uns erst einmal ein Selbstbildnis vor Augen.
Die Ausstellung in Stade beginnt bei den Worpsweder Landschaftsmalern und dem Hamburger Künstlerclub von 1897. Ernst schauen die Künstler drein, oft im schicken Zwirn, im Hintergrund das Sujet, das ihnen wichtig ist. Das Selbstporträt spiegelt das eigene Können und die Biografie.
Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg dann setzen sich die Künstler kritischer mit dem Selbstbildnis auseinander. Es wird als künstlerischer Prozess hinterfragt, sagt Kuratorin Friederike Weimar. Die Urheber legen ihre Selbstinszenierung offen, laden sie politisch auf - wie Harald Duwe mit seinen Gemälden im Stil von Fahndungsbildern - oder führen sie ganz ad absurdum. So zerfällt das Selbst von Dieter Roth in seinen Schokoladenskulpturen mit der Zeit, Thorsten Brinkmann versteckt sein Antlitz unter Vasen und anderen Gegenständen. Lili Fischer verschmilzt in einer Performance mit ihren Spinnen-Figuren, Daniel Richter in einem bisher noch nie gezeigten Gemälde mit seinem Maler-Vorbild Philip Guston.
Einen Bogen zum Selfie hat die Stader Ausstellung dennoch bewusst nicht geschlagen. In den gezeigten Werken gehe es um tiefgründige Selbsterkundung, sagt Museumsdirektor Sebastian Möllers. Das ist eben nicht Klick. Die Herangehensweise der Arbeiten ist dabei ganz unterschiedlich, doch eins eint sie alle: Der Künstler zeigt sich so, wie er von anderen gesehen werden möchte, wie Kuratorin Weimar im Katalog zur Ausstellung schreibt. Und damit haben die Selbstporträts am Ende doch wieder etwas mit den Selfies gemein.