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Literatur Im Bett der Klavierlehrerin - Ian McEwans neuer Roman

Es geht um sexuellen Missbrauch, den Widerspruch zwischen Kunst und Leben und die Auswirkung globaler Katastrophen auf das persönliche Leben. Das neue Buch des britischen Erfolgsautors McEwan spannt einen ganz weiten Bogen.

Von Christina Sticht, dpa Aktualisiert: 17.10.2022, 15:33
Der britische Autor Ian McEwan legt ausführliche „Lektionen“ vor.
Der britische Autor Ian McEwan legt ausführliche „Lektionen“ vor. Bernd von Jutrczenka/dpa

Hannover - Sex und Schuld, Lust und Tod sind Themen, die seit Beginn seiner Karriere eine große Rolle in den Büchern von Ian McEwan spielen. Da ist der Inzest zwischen Bruder und Schwester in „Der Zementgarten“ (1979), während die einbetonierte Leiche der Mutter im Keller verrottet.

Im mit Saoirse Ronan und Keira Knightley verfilmten Welt-Bestseller „Abbitte“ (2001) beschuldigt eine 13-Jährige den heimlichen Geliebten ihrer Schwester der Vergewaltigung und zerstört damit sein Leben.

Erster Sex vor dem Atomkrieg

Der neue Roman des britischen Erfolgsautors mit dem Titel „Lektionen“ beginnt mit einer beklemmenden Szene: Die Klavierlehrerin Miriam Cornell greift dem elfjährigen Roland Baines in die Shorts und kneift ihn schmerzhaft in die Innenseite des Oberschenkels. Es ist das Jahr 1959. Am Schluss der verstörenden Einzelstunde küsst sie den Jungen und befiehlt ihm, sie zu besuchen. Tatsächlich geht der Internatsschüler darauf ein, allerdings erst drei Jahre später. Roland fährt mit dem Rad zu der alleinstehenden Lehrerin - die Kuba-Krise macht ihm Angst, und der 14-Jährige will im Fall eines Atomkriegs nicht sterben, ohne jemals Sex gehabt zu haben.

Die folgenden zwei Jahre werden sein Verhältnis zu Frauen für immer verändern. „Diese Klavierlehrerin ... Die hat dein Hirn neu verdrahtet“, sagt seine Freundin Alissa rund 25 Jahre später zu Roland. Das Paar ist bei Alissas Eltern im niedersächsischen Liebenau, hier zeugen sie ihren Sohn Lawrence, heiraten kurz danach, kaufen ein Haus in London. Wie Alissa eines Morgens verschwunden ist und Roland mit dem Baby allein gelassen hat, ist eine weitere starke Szene am Anfang des mehr als 700 Seiten umfassenden Romans.

Der Schatten des Autors

„Lektionen“ ist McEwans 17. Roman, er ist länger als seine früheren Bücher und enthält weit mehr autobiografische Elemente. „Roland ist in gewisser Weise mein Schatten - oder vielleicht bin ich sein Schatten“, sagte der 74 Jahre alte Schriftsteller im Interview der „Süddeutschen Zeitung“. McEwan bezeichnet die Hauptfigur als eine Art Alter Ego. „Manches von dem, was er erlebt, ist exakt das, was mir passiert ist, manche seiner Gefühle sind zu 100 Prozent meine. Trotzdem und zum Glück hat er ein völlig anderes Leben als ich“, sagte der Autor dem „Spiegel“.

Wie Roland Baines verbrachte McEwan als Sohn eines britischen Offiziers Teile seiner frühen Kindheit in Libyen und wurde dann von seinen Eltern auf ein Internat in England geschickt. Eine Klavierlehrerin wie Miriam Cornell habe es auf seiner Schule aber nie gegeben, heißt es in den Danksagungen zu dem neuen Buch.

„Lektionen“ ist nicht nur persönlicher, sondern auch ausschweifender als frühere Werke des vielfach ausgezeichneten Schriftstellers. Der Roman dreht sich nicht um ein Leitthema wie etwa Künstliche Intelligenz in „Maschinen wie ich“ (2019) oder Stalking in „Liebeswahn“ (1997). Der sexuelle Missbrauch ist nur ein Thema unter vielen. Es geht auch darum, wie uns die Erlebnisse und Traumata unserer Eltern prägen, wie Beziehungen gelingen können und ob Künstlerinnen und Künstler aus familiären Verpflichtungen ausbrechen müssen, um große Werke zu schaffen.

Er beschreibt einen langen Niedergang

Die Handlung erstreckt sich von den Nachkriegsjahren bis zur Corona-Pandemie, an vielen Stellen des Romans möchte man die Hauptfigur Roland Baines schütteln oder zumindest anstupsen: Er schlägt sich mit kleinen Artikeln, als Tennislehrer und Barpianist durch - den Frauen, die ihn verletzt haben, vergibt er im Großen und Ganzen. Was menschliche Beziehungen angeht, ist Optimismus zu spüren, doch die Bewertung der politischen Weltlage ist düster.

McEwan nutzt seinen Roman auch, um mit seiner Generation hart ins Gericht zu gehen. „Das Verschwinden der Hoffnung, dass es unseren Kindern besser gehen wird als uns selbst, an diesen Gedanken haben wir uns schon gewöhnt“, sagte der 74-Jährige der „Süddeutschen Zeitung“. „Ich beschreibe in meinem Buch letztlich einen langen Niedergang. Vom Fall der Berliner Mauer, der so viele Möglichkeiten zu eröffnen schien, bis zur Erstürmung des Kapitols im Januar 2021 und zur Klimakatastrophe.“

Im Alter nimmt sich McEwan die Freiheit, sehr viel Stoff in ein Werk zu packen und damit auch seinen Leserinnen und Lesern „Lektionen“ zu erteilen. Der Schwiegervater in Liebenau gehörte zum weiteren Kreis der Münchner Widerstandgruppe „Weiße Rose“, was McEwan die Gelegenheit gibt, ausführlich über Hans und Sophie Scholls Kampf gegen die Nazis und ihre Hinrichtung 1943 zu erzählen. Weitere Themen sind die Tschernobyl-Katastrophe, der Mauerfall in Berlin, das Lebensgefühl nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und 2005 in London sowie der Brexit.

McEwan versteht es seit Jahrzehnten, unterhaltsam und packend zu erzählen. In seinem Kampf, jeden Tag halbwegs anständig zu überstehen, ist sein Held Roland Baines eine sympathische Hauptfigur, der trotz aller persönlichen und globalen Katastrophen am Schluss des Romans ein bisschen Hoffnung schöpft. Damit lässt McEwan seine Leserinnen und Leser nicht völlig entmutigt zurück.

Ian McEwan: Lektionen, Diogenes Verlag, 720 Seiten, ISBN: 
978-3-257-07213-6, 32 Euro, auch erhältlich als E-Book oder Hörbuch.