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Ballett "Romeo und Julia" in Halberstadt Liebe reißt die Masken vom Gesicht – modern bis altbacken

Von Hans Walter 08.11.2010, 04:17

Das Ballett "Romeo und Julia" von Jaroslaw Jurasz nach der Musik von Sergej Prokofjew hatte am Sonnabend Premiere im Großen Haus des Nordharzer Städtebundtheaters in Halberstadt. Ein großer Abend mit neun Minuten Standing Ovations und vielen Bravorufen.

Halberstadt. Jurasz ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Er reduziert die Shakespearsche Geschichte für sein kleines Ensemble auf notwenige Handlungsstränge und Personen. Er erfindet Handlung, die sowohl dem Leistungsstand seiner Tänzer wie dem Leistungsvermögen der Tanzstatisterie angemessen ist. Das muss ihm erst mal einer nachmachen, mit einem knappen Dutzend Akteuren den unerschöpflichen Figurenkosmos so auszuloten, dass man vermeint, an der Geschichte fehle nichts. Weder die unsterbliche Liebe über den Tod hinaus noch der erbitterte Hass der verfeindeten Familienclans seit Urzeiten, weder die großen Figurentableaus noch die innigsten Gefühlsregungen von Romeo und Julia. Heimlich ist ihre Ehe, doch sie endet aufgrund einer Verkettung widriger Tatsachen im Untergang beider. Das hat bewegende Dimension, ähnlich wie Leonid Lawrowskis Libretto, das fast ein Menschenalter als gültigste Interpretation angesehen wurde.

Der Erfolg in Halberstadt ist vor allen Dingen das Verdienst der permanent geforderten Compagnie mit den famosen Solisten Tiana Lara Hogan (Julia) und Daniel James Butler (Romeo). Ganz groß die Schlüsselszene, als Romeo in Zwiesprache mit Julia seine Larve fallen lässt. So reißt Liebe die Masken vom Gesicht, von denen wir fürchten, ohne sie nicht leben zu können und von denen wir doch wissen, dass das Leben mit ihnen unmöglich ist.

Mit Raffinesse und Empfindsamkeit

Wenn die Liebenden mit technischer Raffinesse und Empfindsamkeit nicht auf der Szene präsent sind, dann ist es das großartig tanzende Ensemble. Jurasz erfand ihnen für ihre Körper Geschichten, die mit großer Klarheit die Vorgänge um die leidenschaftliche Gräfin Capulet (Katia Alves de Alencar), den heftig-aggressiven Tybalt (Marcelo Dono), um Paris (Gereth Sollars), Benvolio (Stephan Müller), die Amme (Ute Karadimow) und um den Draufgänger und Verlierer Mercutio (Jaume Bonnin) erzählen. Bonnin spielt sein elendes Sterben wie eine lapidare Komödie. Genaue Charakterzeichnung, die in unbändiger Tanzlust Profil erlangt.

Die Musik ist seit der Uraufführung 1938 mit ihrer eingängigen Melodik und Rhythmik zur klassischen Moderne geworden. Sie kommt von der CD – mit einer Zutat: dem Nachtigallen-Gezwitscher im nächtlichen Liebesbild. "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche", die das vertraute Paar nach ihrem großen Pas de deux im Garten zum Aufbruch ruft.

Die Tänzer bedürfen eigentlich nicht der Verkleidungen, Perücken, Bärte, Häubchen, Umhänge, Schürzchen und sonstigen Zutaten wie dem Handwagen mit einem Fass Wein als Zeichen von Ausgelassenheit. Denn Jugend ist Trunkenheit ohne Wein. Ist Angriffs- wie Spottlust, Verzweiflung und brutale Gewalt. Trainingskostüme – wie auf dem Volksstimme-Foto vor der Premiere – täten es besser, zumal die Handlung damit aus dem Volksfest-Gewusel im herzig-dekorativen Stil der 50er Jahre herausgehoben wäre, Schärfe bekäme und auch für junge Leute eine zeitlose Modernität gewönne. Doch junges Publikum fand sich im Theater nur vereinzelt. Die Kostüme sehen aus, als stammten sie aus der "Freischütz"-Resterampe; Bruder Laurent (Marcelo Dono) wirkt bei der Trauung Romeos und Julias in seiner Verkleidung, die keine Bewegung außer dem Kreuz-Schlagen zulässt, wie der bärtige siebente Zwerg im Bergwerk. Aber die pastelligen Kostüme sind den Tänzern nagelneu auf den Leib geschneidert.

Die Ausstatterin Kordula Kirchmair-Stövesand – die ich aufrichtig schätze wegen ihrer klaren, die Vorgänge stringent erzählenden Bühnen- und Kostümentwürfe für die Jurasz-Ballette vom "Verlorenen Sohn" über "Othello" und "Alexis Sorbas" bis zu "Kaspar Hauser – stellt diesmal die Vorbühne und die Bühne ganz mit Pappmaché-Säulen und Rafftüll voll; von oben schwebt eine überdimensionale Maske in Rosa herein. Wie man sich halt das Gassengewirr in Verona um 1600 und einen Salon mit Kostümfest so denkt.

Große rote Leuchtschrift "Love"

Wiederum ist es die Ästhetik der 1950er, aufgepeppt mit drei Leuchtpfeilen, die mal leuchten und mal nicht, und – damit es auch der Dümmste merkt – mit einer großen roten Leuchtschrift "love" in Romeos und Julias Liebesszene. Ironie? Gebraucht wird aber von diesen szenischen Zugaben lediglich der Balkon, das Kreuz für das Kirchenbild und der Steintisch in der Gruft, auf dem Julia vermeintlich stirbt. Der Rest hat schon abgespielt, bevor das Spiel überhaupt beginnt.

Was freilich der Wunsch des Regisseurs an Ausstattungsdetails war und was durch die Bühnenbildnerin vorgeschlagen wurde, interessiert den Betrachter wenig. Der Gesamteindruck zählt. Und der schwankt zwischen modern und altbacken. Der Jubel für das Ensemble, der bei der mädchenhaft zarten Tänzerin Tiana Lara Hogan und dem intelligent-sensiblen Daniel James Butler geradezu frenetische Züge annahm, geht dennoch völlig in Ordnung.