Nichts passiert: Psychotrip im Alpenidyll
Der Schweizer Regisseur Micha Lewinsky schickt den Schauspieler Devid Striesow auf einen Psychotrip: in der Rolle eines labilen Familienvaters, der unbedingt alles richtig machen will - und dramatisch scheitert.
Berlin (dpa) - Ausgerechnet ein schwacher Charakter verhilft Devid Striesow zu einem überaus starken Kino-Moment. Im Winterdrama Nichts passiert verkörpert er kongenial den komplex angelegten Protagonisten: den psychisch labilen und unter Alkohol zu Wutausbrüchen neigenden Familienvater Thomas.
Denn der Schweizer Regisseur und Drehbuchautor Micha Lewinsky schickt ihn in eine unvermeidliche Abwärtsspirale. Ihn interessieren Fragen wie: Was passiert, wenn man von einem Verbrechen weiß, das man nicht begangen hat? Ab welchem Punkt werden wir zum Mittäter, einfach weil wir uns nicht einmischen? So wird aus dem Kammerspiel, das recht harmlos beginnt, schließlich ein grausamer Psychotrip.
Dabei will Thomas Engel alias Striesow eigentlich alles in den Griff bekommen. Denn bislang übernimmt er nur selten Verantwortung. Versprechen hält er kaum ein. Darunter leidet nicht nur seine Familie, sondern auch sein Berufsleben. Um sich für eine Beleidigung zu rächen, ist Thomas im Alkoholrausch wutentbrannt ins Auto eines Kollegen gefahren. Immerhin unterzieht er sich deshalb heimlich einer Therapie, doch er nutzt sie nur leidlich.
Im Winterurlaub soll ein Neustart gelingen. Seiner Frau Martina (Maren Eggert) will Thomas Zeit einräumen, damit sie an einem neuen Buch schreiben kann. Seiner Tochter Jenny will er schöne Skiferien bereiten. Außerdem nimmt der freie Journalist auch Sarah mit, die Tochter eines Auftraggebers, um ihm einen Gefallen zu tun - und weil er sich einen neuen Job erhofft.
Das trügerische Alpenidyll aber entwickelt sich zum Schauplatz einer Tragödie: Als Thomas den Mädchen gegen den Willen seiner Frau erlaubt, auf eine Party zu gehen, wird die 15-jährige Sarah vom Sohn seines Hüttenwirtes vergewaltigt. Um jedweden Konsequenzen vorzubeugen, hilft Thomas ihr, die Schmach zu vertuschen. Dabei verrennt er sich hoffnungslos. Eine Lüge kommt zur anderen, der Druck wird immer größer. Schließlich greift er wieder zur Flasche. Und zur Gewalt.
Der Filmtitel Nichts passiert sagt mit zwei Worten, woran Thomas leidet: Er ist so konfliktscheu, dass er sich immer tiefer ins Schlamassel manövriert. Ein recht unsympathischer Charakter. Doch Striesow mauschelt sich unter Lewinskys Regie mit so großer Hilflosigkeit durchs Leben, dass man seine Furcht nachfühlen kann. Striesow gibt Thomas eine passive Leidensmiene, mit der er sogar Momente höchsten Entscheidungsdrucks aussitzt. Dabei helfen ihm teils absurd unterkühlte Dialoge. Auch als alles in die Brüche geht, glaubt er noch: Man kann ja miteinander reden. Getrieben von Harmoniesucht will Thomas kitten, was nicht zu kitten ist.
Eines macht der Film überdeutlich: Leid, Angst und Schmerz lassen sich nicht langfristig unterdrücken. Wenn die Gefühle erst aus Sarah, dann aus Thomas, herausplatzen, legt Lewinsky schließlich offen, wie verwundbar Menschen werden, wenn sie Probleme einfach übertünchen wollen. Wie gnadenlos unterdrückte Konflikte einen schwachen Charakter schließlich einholen können, zeigt vor allem das herausragende Spiel von Devid Striesow. Für ihn wird die Figur dieses neurotischen Antihelden zur Paraderolle.
(Nichts passiert, Schweiz 2015, 88 Min., FSK ab 12, von Micha Lewinsky, mit Devid Striesow, Maren Eggert, Annina Walt)