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Kolumne Orte des Teufels

Von Ulrich Schacht 30.09.2010, 04:13

Das neueste Buch von Christa Wolf, "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" sein Titel, ist kein Roman, sondern eine Art autobiografischer Recherche ins Quellgebiet eines Traumas. Des Traumas der Autorin, vor langer Zeit für einen kurzen historischen Moment dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR als "IM" Margarete gedient zu haben.

Dieses Trauma ist zwanzig Jahre alt, denn bis zum Zusammenbruch des SED-Staats hatte Christa Wolf das peinliche Engagement nicht nur verdrängt, sondern komplett vergessen. Um diesem Prozess einer Selbstamnesierung auf die Spur zu kommen, ist sie in der Phase der Aufdeckung ihrer "IM"-Tätigkeit am Beginn der neunziger Jahre für Monate nach Los Angeles ausgewichen: Dank einer Einladung des Getty Centers. Es ist hier nicht der Ort, das durchaus eindrucksvolle Buch einer kritischen Würdigung zu unterziehen; aber es hat für die SED-Intellektuellen der Generation Wolf etwas Prototypisches, wenn es um das scheinkritische Festhalten an ihrem politischen Grundirrtum geht: Mochte der SED-Staat unbestreitbare Fehler gehabt, gar politische Verbrechen begangen haben – an seinem Anfang stand das gut gemeinte, antifaschistische Experiment, an dessen Erfolg zu glauben keine Schande gewesen sein kann.

Nicht ungeschickt nährt Christa Wolf in ihrem Buch diesen Mythos, und man fragt sich, wie schwach muss ein Mensch sein, wenn er trotz überwältigender Faktenlage, was den stalinistischen Ursprung der DDR und damit ihren verbrecherischen Charakter betrifft, der Wahrheit nicht ins Gesicht zu schauen vermag?

Vielleicht sollte Christa Wolf ein Werk über jene Ursprungsphase des SED-Staats in die Hand nehmen, das in der Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienen ist und den Titel trägt: "Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland" von Bettina Greiner. Das Institut gehört dem eines primitiven Antikommunismus unverdächtigen Literaturwissenschaftler und Zigarettenkonzernerben Jan Philipp Reemtsma, der durch ein Denken aufgefallen ist, das sich eher im linken Diskursfeld der Bundesrepublik verankert weiß. Doch Reemtsmas Institut hat schon immer ein Auge auf den kommunistischen Totalitarismus und seine Schreckensbilanz gehabt, und deshalb ist es logisch, dass diese Untersuchung dort erschienen ist.

Was mit ihr versucht wird, ist nicht nur ein systematisches Erfassen der komplexen Lagerwirklichkeit zwischen Einlieferung der Häftlinge und Verlassen, tot oder lebendig. Nicht nur Verhaftungsanlässe, justizförmiger Terrorismus, ideologische Rechtfertigungslinien, Denunziationsexzesse, Verhörmethoden werden rekonstruiert, von Opferzahlen und der Handlangertätigkeit der SED ganz zu schweigen – vor allem hat die Autorin die Courage, im Kapitel "Zum historischen Ort der Speziallager", zu einem Urteil im Rahmen des Vergleichs mit den alliierten Internierungslagern in den Westzonen zu kommen sowie mit den Vernichtungslagern der Nazis wie des Gulag. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass die sowjetischen Speziallager auf dem Gebiet der SBZ Teil jenes grauenhaften Archipels Gulag waren und damit antifaschistische "Konzentrationslager". Die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts aber waren Orte des Teufels.

Darüber hinaus benennt Bettina Greiner kritisch die geschichtspolitische "Dethematisierung" des historischen Phänomens "Speziallager".

Bleibt am Ende die Doppelfrage, wer schenkt Christa Wolf diese verdienstvolle Studie, und wenn es einer täte, würde es etwas nützen?