1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Rennschnecken und Liebesbriefe

Von Heinz Kurtzbach Rennschnecken und Liebesbriefe

23.06.2011, 04:26

Ach Freunde, das waren noch Zeiten, als es hieß: Der Fortschritt ist eine Schnecke, was bedeutete, dass der Fortschritt Zeit zum Verschnaufen ließ beim Einrichten des Neuen – Modern Times zwar, aber auch Eile mit Weile; abwarten und Tee trinken; nicht so schnell mit die jungen Pferde.

Nicht so schnell! Der Fortschritt im digitalen Zeitalter ist immer noch eine Schnecke. Aber eine Rennschnecke. Schnell, dynamisch und – rücksichtslos.

Wo die digitale Rennschnecke mäht, auf ihrem Weg zum Fortschritt, wächst kein Gras mehr – und das Dahergekommene, und sei es noch so verwurzelt in der Alltagskultur, nimmt seinen Abschied. So musste ich neulich eine Aufstellung von Dingen lesen, die "vermutlich bald aussterben" werden.

Dass man demnach keine 2D-Filme mehr sehen wird, weil es jetzt 3D gibt, hat mich ja noch ganz gelassen gelassen. Dass die Papierfotos ausgedient haben, weil alle Welt nur noch digital fotografiert und die Bilder dann im elektronischen Nirwana verschwinden, hatte ich auch schon geahnt und geschluckt.

Dass nun aber auch der handgeschriebene Brief sein Schicksal erleiden wird, inklusive dem Liebesbrief – das hat nun doch Schockwellen ausgelöst. Abgesehen davon, dass mit dem Verlust des Handschriftlichen generell ein Stück Kultur unter die digitalen Räder kommt: Liebesbriefe digital, geschrieben – besser: gesimst – mit dem Handy: wie unromantisch! Das geht ja nun gar nicht. Heiliger Amor, schieß Zornespfeile ab!

Ihr Liebenden, mein Mitleid ist mit euch. Was war das damals aufregend, zu warten auf die Grüße der Liebsten. Mit bangem Herzen wurde der Gang des Briefträgers im Flur erwartet, welch Glücksgefühl, wenn der Brief dann wirklich deponiert war, handgeschrieben mit Herzblut, vielleicht noch unterlegt mit einer Gedichtzeile von Möricke oder Heine und vom betörenden Duft ihres Parfums umfangen. Ein Rausch der Sinne, ein Ereignis ihn zu lesen, ein Schatz, der an sicherem Ort verwahrt wurde für alle Zeiten – ach, ja!

Und wonach duftet das Handy, auf dessen Mini-Display die romantische Message aufleuchtet: "Hey! Bistn cooler Typ!! Date?" An welchem sicheren Ort wird dieser Schatz verwahrt werden? Weggemäht ist jegliche Romantik; die modernen Zeiten haben keine Zeit für Liebesgestammel, und wer partout nicht auf Liebesschnickschnack verzichten will, dem wird von Google aufs Pferd geholfen.

Unter der Rubrik "Liebesgedichte" findet sich folgender SMS-geeigneter Satz mit der Empfehlung, ihn zu senden: "Liebe ist eine Krankheit, die man im Bett auskuriert – lass uns gemeinsam krank werden." Na, wenn die Tussi da nicht drauf abfährt! Viel Spaß dabei!

Ich geh jetzt zu Horst ins "Sportlereck" und werd ihn fragen, wann er seinen letzten Liebesbrief – natürlich von Lilo - erhalten hat. Wird komisch hinter der Theke hervorschauen. Aber eines ist sicher: Nicht auf dem Handy. Wir nicht, Horst und ich. Wir nicht. Wir wissen noch, wie Liebesbriefe duften.