Frau Nemirova, Sie haben bereits alle großen Opern Wagners – einschließlich des „Rings“ – inszeniert. Warum jetzt der vergleichsweise überschaubare „Holländer“? Was reizt Sie daran?
Vera Nemirova: Zunächst ist der „Holländer“ für mich biografisch wichtig: Aus Bulgarien kommend, debütierte meine Mutter in Rostock als Senta. Hand in Hand damit ging unsere Sozialisation. Ich bin sozusagen mit der Senta groß geworden und habe mit Wagner Deutsch gelernt. Künstlerisch gesehen kann man sagen, dass alles, was den späteren Komponisten ausmacht, sich im „Holländer“ konzentriert wie in einem Brühwürfel vorfindet. Die Geschichte ist zudem absolut zeitlos und hoch aktuell.
Meinen Sie damit eine Parallelität zwischen dem Geschehen um den Holländer und dem Schicksal heutiger Flüchtlinge?
Es handelt sich nicht um gradlinige Aktualität. Das Grauen der Flüchtlinge ist nicht auf der Bühne zu bebildern. Eine Ästhetisierung ist da nicht zulässig. Doch man kann den Zuschauern Assoziationsfelder schaffen, die ihnen helfen, ihre Parallelen selbst zu erzeugen. Das Los des Holländers und seiner Mannschaft ist eine Metapher für Ortlosigkeit, für Getriebensein und Herumirren, für die Suche nach Heimat in einem fremden Land oder vielleicht bei einem Menschen. Es geht um Integration im weitesten Sinne.
Was bedeutet das?
Der Holländer hat große Sehnsucht danach anzukommen, während Senta in ihm jemanden sieht, der ihr helfen könnte aus ihrer Umgebung auszubrechen. Das ist der Punkt, an dem sich beide treffen und gleichzeitig verpassen. Die Entwicklung ist sozusagen gegenläufig.
Wagner hat ja zwei Schlussvarianten der Oper komponiert. Für welche haben Sie sich entschieden?
Das ist eine inhaltliche, nicht nur musikalische Frage. Wir haben uns im Team auf die erste Fassung ohne den sogenannten Erlösungsschluss von 1860 festgelegt. Wenn man im Kopf hat, dass da eine Frau die Erlösung eines Mannes mit dem Leben bezahlen muss, versagt sich das der Apotheose.
Der Holländer ist ja eine mystische Gestalt. Wie geht man 2017 mit Gespenstern um?
Gespenster verunsichern uns heute nicht wirklich. Uns verunsichern die Abgründe in uns. Wir gehen darum von einer realistischen Spielweise aus, die mit Hilfe der modernen Medien durchbrochen wird, um die Sehnsucht Sentas nach dem Wunschbild eines Mannes zu veranschaulichen. Die Idealisierung ist eins, die gelebte Realität aber etwas ganz anderes. Das trifft ebenso auf den Holländer zu. Übrigens auch ein heutiges Thema: die Wirklichkeit entspricht nicht dem, was sich jemand virtuell erträumt.
Der „Fliegende Holländer“ ist aktuell auch in Dessau und Halle im Programm. Deshalb haben die drei Theater unter dem Schlagwort „Holländer hoch 3“ ein Paket für alle drei Inszenierungen geschnürt. Der Kauf einer Karte berechtigt an den jeweils anderen Theatern zu 30 Prozent Ermäßigung. Was halten Sie von einer solchen Aktion?
Alle drei Produktionen zeichnen sich durch eine völlig andere Lesart aus.Ich halte das für ein Markenzeichen der kulturellen Vielfalt eines Landes und eine große Qualität, dem Publikum die Möglichkeit zu geben, drei Interpretationen desselben Stückes zu vergleichen und zu erleben.
Frau Nemirova, Sie sind auch international unterwegs. Im April ist beispielsweise eine Aufführung der „Walküre“ im Rahmen der Salzburger Osterfestspiele mit Christian Thielemann am Pult geplant. Und Sie haben bereits mehrfach in Magdeburg inszeniert. Was treibt Sie immer wieder hierher?
Ich habe hier immer gern gearbeitet. An einem Ensembletheater, wo die Leute aufeinander abgestimmt sind, gibt es Bedingungen, die andere Qualitäten haben, als an den Theatern der Superlative, die ihre Qualitäten haben. Ich freue mich sehr, wieder hier zu sein.