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Theater Magdeburg Dialoge verlieren sich in Selbstmitleid

„Heilig Abend“ ist ein Kammerspiel von Daniel Kehlmann, das am Mittwoch im Magdeburger Schauspielhaus Premiere hatte.

Von Rolf-Dietmar Schmidt 31.10.2019, 23:01

Magdeburg l Es hätte auch jeder andere Tag sein können, um in einer Verhörsituation über das Verhältnis von Gewalt und eine gerechtere Welt zu philosophieren. Allein durch die Wahl dieses Tages entsteht keine Dramatik.Das Stück wurde von Magdeburgs Schauspieldirektor Tim Kramer ursprünglich für das Theater am Kirchplatz (TaK) in Liechtenstein inszeniert und als Übernahme nun nach Magdeburg transferiert.

Der gutbürgerlich wirkenden Philosophieprofessorin Judith wird vorgeworfen, mit ihrem Ex- Mann gemeinsam einen Anschlag mit einer Bombe geplant zu haben, die vermutlich Heiligabend um Punkt 24 Uhr explodiert. Ob das stimmt oder nicht, bleibt unbeantwortet. Aber dafür gibt es ein Verhör des Ermittlers Thomas, der genau 90 Minuten Zeit hat, herauszufinden, ob es die Bombe wirklich gibt, und wenn ja, wo sie sich befindet. Immer wieder ist eine Uhr zu sehen, denn das Kammerspiel hält sich exakt an diese 90 Minuten.

Diese drei Elemente, die emotional aufgeladene Heiligabend-Stimmung, die tickende Uhrzeit und die Ungewissheit, ob es die Bombe tatsächlich gibt, sollen als dramatische Elemente den Spannungsbogen in dem Eineinhalb-Stunden-Verhör aufrechterhalten. Doch genau das gelingt nicht.

Stattdessen entsteht ein Konglomerat aus Rechtfertigung von Terror im Namen einer gerechteren Gesellschaft und dem daraus geschlussfolgerten Überwachungsterror des Staates sowie seines Gewaltmonopols. Dem Zuschauer wird erklärt, wie das mit dem Unterschied zwischen Arm und Reich ist, was Ausbeutung bedeutet, und dass man für Freiheit kämpfen muss. Irgendwie erinnert das an ein Seminar zur marxistischen politischen Ökonomie früherer Zeiten.

Es mag sein, dass solche Erkenntnisse den Zuschauer in Liechtenstein - nach jüngerer Statistik das einkommensreichste Land der Erde - fürchterlich verschreckt und aufwühlt. Im Osten Deutschlands dürfte das kaum den Blutdruck erhöhen.

Kehlmann ist ein österreichischer Erfolgsautor, Regisseur Tim Kramer wurde zwar in Berlin geboren, hat aber den wesentlichen Teil seiner Karriere in Österreich verbracht, die Philosophieprofessorin Judith, gespielt von Boglàrka Horvàth, ist in Niederösterreich aufgewachsen, und der Ermittler Thomas, der auch Thomas Beck heißt, ist in Liechtenstein geboren und jahrelang durch die Schweiz getourt. So liegt vermutlich ungewollt über der gesamten berechtigten Kapitalismuskritik eine Art versöhnliches österreichisches Schmähpolster.

Wie radikal darf man sein? Ist Gewalt ein probates Mittel in der politischen Auseinandersetzung? Ist strukturelle Ungleichheit, mit anderen Worten Armut, nicht auch eine Form sozialer Gewalt?

Das Stück bietet unzählige Ansätze, die aktueller kaum sein können. Stattdessen verlieren sich die Dialoge in Selbstmitleid über die unglückliche Beziehung des Ermittlers zu seiner Frau, der sich schließlich völlig unerklärlich auch noch seinem Verhöropfer als Beziehungspartner anbietet. Seine psychologischen Druckmethoden prallen an der selbstbewussten Professorin ab. Weder vermag er Eifersucht zu wecken, wenn von Verhältnissen des Ex-Mannes mit Studentinnen die Rede ist, noch hilft die Tatsache, dass sie nach dem Absturz bei einer Klettertour 24 Stunden im Berg hing, bis ihr Ex-Mann endlich Hilfe geholt hatte. Diese Sondersituation erschließt sich als Verhör-Druckmittel ohnehin allenfalls einem Bergsteiger.

Das Stück „Heilig Abend“ ist als virtuoser Echtzeit-Thriller angekündigt. Das ist er ganz sicher nicht. Um es ganz deutlich zu sagen: An den Schauspielern lag es nicht, wenn sie in den Dialogen oft ein wenig hilflos wirkten. Lautes Schreien ist nicht das Merkmal eines Kammerspiels, die Dramatik muss von innen kommen. Und da offenbart das Stück doch eine Reihe von Schwächen, versucht schwer nachvollziehbare Motivationen durch Welterklärung auszugleichen. Das kommt nicht bei jedem gut an.

Vielleicht sollte sich an dieses Stück eine Diskussionsrunde anschließen, um über Gewalt, Ausgrenzung und den Überwachungsstaat zu diskutieren, denn es bleibt offen, ob es nun eine Bombe oder nur einen Verdacht gab. Da wäre also jede Menge Stoff zum Meinungsaustausch.